Montag, 9. August 2010

Vierunddreissigster Eintrag

Kurz bevor ich heute meine Reise nach Lugano antrat, erreichte mich ein SMS von meinem Vater. Er schrieb, dass er leider doch nicht da sein und mich treffen könne, da er für ein wichtiges Projekt kurzerhand nach England verreisen müsse. Er könne mir leider keine weiteren Details nennen. Hmm. Und er schlug vor, dass wir das ganze doch per Mail diskutieren könnten.

Irgendwie bin ich enttäuscht. Klar, er kann nichts dafür, dass er weg muss. Aber ich hätte trotzdem gerne mit ihm über seine Vergangenheit gesprochen, weil es geht ja dabei auch um mich. Nun, mein Vater schlug dann noch vor, dass ich ja trotzdem ein wenig Ferien in Lugano machen könnte. Er hätte jedenfalls den Schlüssel bei der Nachbarin deponiert und ich könnte jederzeit seine Wohnung benutzen.

Ich schlug das Angebot nicht aus, da ich weg von zu Hause muss. Keine Ahnung weshalb, aber hier zu sein ist nicht gut. Ich will raus in die Welt, etwas sehen, etwas erleben. Hier zu Hause ersticke ich nur. Einige Stunden später befand ich mich in Lugano. Bisher war ich noch nie in dieser Wohnung meines Vaters. Er hat sie noch nicht sonderlich lange. Ich staunte nicht schlecht; sie liegt mehr oder weniger direkt am Lago di Lugano, d.h. man hat einen wunderbaren Ausblick darauf. Die Wohnung liegt in der obersten Etage eines weissen, ungefähr 30-Jährigen Wohnblocks mit merkwürdig verwinkelten Balkonen.

Die Nachbarin, eine freundliche und gepflegte ältere Dame händigte mir den Hausschüssel ohne weitere Umstände aus. Gespannt öffnete ich die Türe, trat ein und fand die Wohnung erstmal ziemlich toll. Sie hat einen dunklen Parkettboden und ein Sonnendurchflutetes Wohnzimmer mit einer offenen Küche. Im Wohnzimmer stehen zwei grosse Corbusier-Sofas über denen sich jeweils ein grosses Gemälde befindet. Neben einem der Sofas steht ein kleiner Barwagen mit verschiedensten Spirituosen. Geht man im Flur am Wohnzimmer vorbei, findet man noch ein Schlaf- und Arbeitszimmer, sowie ein grosszügiges, komplett mit schwarzen Mosaiksteinen ausgekleidetes Badezimmer.

Im Wohnzimmer setzte ich mich erst einmal hin auf eins der Sofas und schaute mich um. Das Sofa war wunderbar angenehm, aber irgendetwas war komisch. Nach einer Weile wurde mir klar, dass es nach nichts roch. Üblicherweise riecht es in allen Wohnungen nach irgendwas. Doch hier fiel mir ausser dem Ledergeruch der Corbusier-Sofas nichts auf. Es roch einfach nach gar nichts. Ich fand das irgendwie merkwürdig und wanderte ein wenig in der Wohnung umher. Im Schlafzimmer, wie auch im Arbeitszimmer war es nicht anders.

Ganz allgemein fiel mir auf, dass da nicht viel war. Im Schlafzimmer lediglich ein Bett und ein alter Aktenschrank, indem sich Stapel gebügelter weisser Hemden befanden. Im Arbeitszimmer stand lediglich ein USM-Haller Ecktisch, sowie ein Haller-Sideboard und ein grosser schwarzweiss Fotodruck, der über dem Sideboard hing. Auf dem sauber aufgeräumten Arbeitstisch stand verloren ein iMac herum.

Hier war alles sehr Funktional und ich vermisste irgendwie die persönliche Note. Ich durchsuchte das Haller-Sideboard und den Korpus nach persönlichen Notizen oder Gegenständen, fand bis auf einige Abrechnungen nur wenig. Es lagen jedoch auffällig viele Magazine herum, wie z.B. GQ, Vanity Fair oder Monocle. Mein Vater schien mir plötzlich ziemlich fremd. Ja schon seit einigen Tagen schien er mir ziemlich fremd zu sein. Was weiss ich überhaupt über ihn? Wer ist er?

Ich bekam Hunger und wollte mir etwas aus dem Kühlschrank holen. Dieser war jedoch bis auf ein Glas Essiggurken und eine Senftube komplett leer. Als ich mich umdrehte entdeckte ich auf der marmornen Arbeitsfläche der Küche einen Umschlag, der mit meinem Namen adressiert war. Ich öffnete ihn behutsam und zog ein gefaltetes Stück Papier heraus, indem sich eingeklemmt einige Hunderternoten befanden. Auf dem Zettel stand mit flüchtiger Schrift geschrieben

Hallo Jérôme


Es tut mir leid, dass wir uns nicht sehen können, aber mir ist etwas dazwischen gekommen und ich musste kurzfristig verreisen. Da gerade nichts mehr im Kühlschrank ist, lasse ich dir ein wenig Geld da, damit du dir etwas zu Essen und evtl. auch sonst noch etwas kleines leisten kannst.


Alles Liebe
Papi


Nun, etwas Kleines ist gut...es waren 800.-, die er mir kurzerhand hier gelassen hat. Irgendwie fand ich das toll, aber irgendwie auch pervers; es hätte jetzt wirklich nicht so viel sein müssen.

Da es Sonntag war und die Läden geschlossen hatten, entschloss ich mich in ein Restaurant zu gehen. An der Promenade und in der Altstadt Luganos gibt es ziemlich viele verschiedene Restaurants. Viele davon sehen auch ziemlich teuer aus. Aber ich hatte nicht wirklich Lust darauf, in so ein steifes Lokal zu sitzen und lange auf mein Menu zu warten. Deshalb ging ich ganz einfach in die McDonald's-Filiale neben der Seepromenade und bestellte ein Cheesburger Royal Menu.

Als ich mein Menü innerhalb von weniger als einer Minute erhielt, setzte ich mich an irgendeinen der Tische und starrte ein wenig vor mich hin. Mich faszinierte die Hohe Decke in diesem McDonalds. Sie war mit einer Stuckatur überzogen, welche mir gut gefiel. Wenig später fiel mein Blick jedoch auf eine Gruppe gleichaltriger, die einen Tisch weiter weg sassen. Sie waren zu fünft; zwei Typen und drei Mädchen. Und sie waren englischsprachig; der Aussprache nach stammten sie aus den USA. Sie hatten viel Spass miteinander; neckten sich gegenseitig usw.

Eigentlich sofort fiel mir eins der Mädchen auf. Sie hatte glattes, dunkelblondes Haar und grosse, braune Augen. Schminke trug sie keine oder zumindest trug sie sie so, dass sie mir nicht auffiel. Sie hatte so etwas total authentisches und natürliches an sich. Wenn sie lachte, wenn sie um sich schaute und auch als sie mich kurz anschaute. Unsere Blicke trafen sich nur ganz kurz, aber es schien mir, als sei es eine halbe Ewigkeit gewesen. Ich fühlte mich, als würde ich unter Strom stehen. Doch in diesem Moment war es ein schönes Gefühl, unter Strom zu stehen.

Ich suchte in der Folge immer wieder ihren Blick, doch sie sah mich nicht mehr an. Nachdem ich mein Menü verdrückt hatte und sie noch eine Weile angestarrt hatte, stand ich auf und entsorgte meine Essensresten. Ich lief an ihr vorbei und blickte sie noch ein letztes Mal an und auch sie sah mich an. Kurz aber intensiv. Abermals durchflossen mich tausende Volt und meine Gefühle spielten für einen Augenblick verrückt; einerseits fühlte ich mich gut, denn sie hatte mich offenbar bemerkt. Nur half mir das wenig, da ich sie wohl nie mehr sehen würde.

Ein wenig geknickt ging ich zurück in die Wohnung meines Vaters, schaltete die Glotze ein und sah mir eine langweilige Dokumentation über irgendwelche seltenen Tierarten. Gedanklich war ich jedoch beim Mädchen aus dem McDonald's. Und bei Aline...

3 Kommentare:

  1. herzzerreissend.. erzähl mehr! ich möchte wissen, wie die McDonald's-Mädchen Story weitergeht!

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  2. Dein Leben ist wie ein Buch.
    Beneidenswert.

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  3. @coquinette: gerne, aber ich glaube irgendwie nicht, dass ich sie wiedersehen werde...

    @Tomiii: Meinst du? Ich finde es nicht soooo beneidenswert, aber das hat wohl jeder ab und an ;)

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