Sonntag, 19. September 2010

Vielen Dank euch allen

Morgen enden die Semesterferien und mein Studium beginnt wieder... und das dürfte wohl die ideale Gelegenheit sein, um euch eine Sache zu beichten: Jérôme existiert nicht wirklich. Ich hoffe ihr seid mir deshalb nicht böse oder fühlt euch irgendwie hintergangen. La vie de Jérôme ist ein kleines Sommermärchen, welches während den letzten Wochen Seite für Seite wuchs und mehr und mehr Gestalt anzunehmen begann.

Nun, natürlich ist nicht alles an Jérôme fiktiv. Er hätte genau so gut irgendeiner von vielen Zürcher Gymnasiasten sein können. In Jérôme vermischen sich vielmehr Fiktion und Realität; viele der beschriebenen Szenen widerfuhren mir als Gymnasiast einst selbst. Vielleicht nicht 1:1, aber vieles davon ist wahr und einfach ein wenig anders erzählt. Wichtig ist wohl, dass bei Jérôme und mir die Themen dieselben waren: Mädchen, die Suche nach sich selbst und schwierige familiäre Verhältnisse.

Wenn man so will, dann versuchte ich mit dieser kleinen Geschichte einerseits gewisse Erlebnisse meiner Jugend zu verarbeiten und ja, andererseits wohl auch eine Lehre zu vermitteln, die mir wichtig scheint: Ausser dem Hier und Jetzt gibt es keinen "richtigen Moment", den es abzuwarten gilt, um dann jene Dinge zu tun, die man eigentlich jetzt gerne tun würde. Man sollte das Leben und vor allem die Jugend geniessen; man sollte Dinge ausprobieren, Dinge erleben und das Risiko eingehen, auch einmal auf die Nase zu fliegen - Hauptsache man lebt intensiv.

Ich weiss nicht, ob es mir irgendwie gelungen ist, diese Nachricht rüberzubringen. Und wenn auch nicht, so hoffe ich doch zumindest, dass ich euch hin und wieder ein wenig unterhalten konnte. Ich bin euch auf alle Fälle für all eure tollen, netten und aufmunternden Kommentare sehr dankbar! Ich durfte so auch viele neue Blogs kennenlernen; alle sind sie in ihrer Art einzigartig und speziell. Und es war immer wieder ergreifend zu sehen, wie viel Herzblut in ihnen steckt - es ist einfach schön, dass es sowas gibt :)

Nun, vielleicht bleibt die/der Eine oder Andere mir trotzdem irgendwie verbunden, denn ich blogge ja weiterhin, bloss in einem anderen Blog. Ich wünsche euch allen jedenfalls alles Gute für euer weiteres Leben und hoffe, dass ihr glücklich werdet/bleibt :)

Monsieur Croche / Jérôme

Mittwoch, 11. August 2010

Sechsunddreissigster Eintrag

Wichtige Dinge scheinen eigentlich immer dann zu geschehen, wenn man am Wenigstens mit ihnen rechnet; sie kommen dann ganz plötzlich und gänzlich unverhofft. Das war auch gestern so. Ich verspürte irgendwie das Bedürfnis nach draussen zu gehen. Das Bedürfnis, nochmals ein wenig am See entlang spazieren zu gehen. Als ich die Wohnung meines Vaters verliess, suchte ich zuerst eins der zahlreichen Restaurants auf, die sich in Luganos‘ Altstadt tümmeln.

Ich spachtelte dort ziemlich lustlos einen Teller Risotto in mich hinein und trank einige Gläser Rotwein dazu. Mein Kopf wurde schon bald schwer und ich wurde irgendwie lustig. Zumindest fühlte ich mich so. Ich fuchtelte mit der letzten verbliebenen Zweihunderternote meines Vaters herum und deutete dem Servicepersonal, dass ich zahlen wollte. Auf die Rechnung in Höhe von knapp fünfzig Franken gab ich zehn Franken Trinkgeld und spielte mich wohl ein wenig auf.

In diesem Moment war mir gerade danach. Ich verspürte irgendwie das starke Bedürfnis wahrgenommen zu werden. Und ein Stück weit war es wohl auch ein Spiel für mich. Daraufhin verliess ich die Altstadt in Richtung der Seepromenade. Es hatte bereits stark eingedunkelt und am Himmel behaupteten sich nur noch letzte rot-orange gefärbten Wolken gegen die hereinbrechende Dunkelheit.

Ich ging einige Schritte unter den Baumarkaden und lehnte mich kurz vor einem Bootsverleih an das Geländer, das die Promenade vom See trennte. Auf der gegenüberliegenden Seeseite flackerten distinguiert die Lichter entfernter Liegenschaften und die Lugano umgebende Hügellandschaft war mittlerweile vollends in Dunkelheit getüncht und kontrastierte nur noch wenig mit dem Abendrot. Sie würde dies von nun an wohl noch einige Minuten tun, bis die Nacht vollends ihren Schleier über Lugano legen würde. Diese Stimmung machte mich irgendwie melancholisch, traurig und unzufrieden. Ich weiss nicht so recht, welches Gefühl überwiegte; - es war wohl eine Mischung aus allen Dreien.

Ich versuchte die Gedanken und Gefühle zu verdrängen, denn es machte so oder so keinen Sinn und ich ging deshalb weiter. Zu meiner Linken zogen sanften Windstössen gleichend einige Autos vorbei und ergänzten die rhythmisch klatschenden Wogen des Sees, die zu meiner Rechten an der Promenadenmauer brandeten. Familien mit verwöhnten Kindern drehten die letzten Runden ihres Abendspazierganges und kreuzten meinen Weg. Irgendwo in der Ferne war freudiges Gelächter junger Menschen zu vernehmen. Es zog mich auf wundersame Art und Weise an.

Es kam deutlich aus der Richtung des Parks und ich ging schnurgerade darauf hin zu. Nach einigen hundert Metern erkannte ich in der Ferne eine Gruppe von Leuten, die auf mich zukam. Nach ein paar weiteren Metern erkannte ich, dass sie zu fünft waren und dann, ich kam kamen uns immer näher und näher, dann erkannte ich plötzlich, dass es die fünf Amerikaner aus dem McDonald‘s von gestern waren. Und ja, jetzt erkannte ich ganz deutlich, dass auch sie, das Mädchen aus dem McDonald‘s mit dabei war!

Die Zeit schien sich urplötzlich zu verlangsamen und mein Blick verengte sich auf die Form eines schmalen Tunnels in dessen Zentrum sie stand. Tausende Gedanken, Ängste und Hoffnungen schossen mir gleichzeitig durch den Kopf und paralysierten mich. Wie in einem Traum sah ich die Gruppe an mir vorbeiziehen. Sie ging zusammen mit ihrer Freundin ein wenig hinter den anderen Drei. Als wir aneinander vorbeigingen, sah ich sie an und sie erwiderte den Blick; dabei sah ich deutlich in ihren Augen, dass sie mich ebenfalls wieder erkannt hatte. Der Moment, in dem wir aneinander vorbeigingen, dauerte wohl nicht einmal eine Sekunde, aber es fühlte sich wie eine Minute an. Und so schön diese Minute auch war, sie war plötzlich vorbei - ich war an ihr vorbei und sie an mir vorbei. Ein Gefühl tiefer Reue und Unzufriedenheit packte mich, ja ergriff Besitz von mir; derart, dass nicht ich, sondern ein anderer meinen Körper zu steuern schien. Ich sah, wie sich mein Körper wendete, ihr hinterherging, wie sich eine Hand ausstreckte und sie an der linken Schulter berührte.

Erstaunt drehte sie sich um und starrte mich erschrocken mit ihren grossen Rehaugen an. Und dann verliessen plötzlich diese Worte meinen Mund: «Hey! You are beautiful!» Die Zeit stand still und alles um uns herum schien unwichtig zu sein, ja nicht zu existieren. Unentwegt starrte sie mich noch immer an, blickte wenig später kurz zur Seite, schaute hilfesuchend ihre Freundin an, wendete sich dann wieder mir zu. Ihr Mund öffnete sich langsam und über ihre Lippen huschten zwei Worte: «Fuck you!»

Wie wenn jemand eine aufgeblasene Tüte zum bersten gebracht hatte, um einen Schlafenden zu wecken, rissen mich diese Worte wieder zurück in die harsche, kalte Realität. Schlagartig machten sich in mir Trauer und Unverständnis breit und es war trotz allem noch immer so, dass sonst jemand die Kontrolle über mich zu besitzen schien. Denn ohne gross zu überlegen antwortete ich «Why should I fuck myself, just because I think that you‘re beautiful?»

Sie lachte. Völlig unvermittelt und sie schien wohl selbst darüber erstaunt zu sein, dass sie lachte, denn noch im selben Moment hielt sie sich ihre Hand vor ihren Mund und verschluckte weitere Lacher; ihre Augen lachten indes weiter. «Danke dir!» sagte sie und fragte, ob das hier in der Schweiz üblich sei, Frauen so anzuquatschen.

Ich antwortete, dass ich das nicht wisse, dass es aber sicherlich für mich nicht üblich sei. In der Zwischenzeit stoppten auch die anderen Drei der Gruppe und kamen auf uns zu. Sie waren zwei Typen und ein Mädchen. Das Mädchen war eher kleingewachsen und hatte rostbraunes, gelocktes Haar. Offenbar war sie die Freundin des einen Typen. Er war eher ein unauffälliger Typ; braunes, mittellanges Haar, klassischer Schnitt mit Seitenscheitel und schwarz gerahmter Hornbrille. Der Dritte war ein grosser und schlanker Typ mit blonden Haaren, der uns alle mindestens um einen halben Kopf überragte. Er hatte ein kantiges, männliches Gesicht, dass aber trotzdem nicht ins derbe überging. Ich hätte mir gut vorstellen können, dass er Model oder sowas ist.

Der Grosse ergriff das Wort: «Hey, was geht ab? Janice, macht dich der Typ dumm an?»
«Nein nein, kein Problem!» sie lachte. «Er hat mir nur gerade gezeigt, wie man hier in der Schweiz Mädchen anspricht - irgendwie charmant» sie lachte abermals. Ich wusste nicht recht, was ich darauf antworten sollte und redete deshalb irgendeinen Brei zusammen: «Also, ich weiss nicht, ob man das hier in der Schweiz so macht. Ich hab‘s jetzt einfach mal so gemacht, weil sie mir gefällt» Die Freundin des McDonald-Mädchens, eine Schwarzhaarige, fand das irgendwie entzückend: «Ohhh, wie süss!» Der Grosse fand das irgendwie weniger oder ich weiss auch nicht, jedenfalls äffte er sie nach «Ohhh, wie süss! Aber Schweizer-Casanova, weisst du, wo man hier ausgehen kann? Heute geht hier irgendwie überhaupt nichts ab und der Proviant geht uns langsam auch aus.»

Er hob eine Cola-Flasche, nahm einen Schluck daraus und ergänzte: «Party-Proviant. Du weisst schon, was ich meine.» Er grinste und schien seine anfängliche Skepsis schnell zu verlieren. «Ich heisse übrigens Shaun. Freut mich dich zu treffen.» Er stellte mir die Gruppe vor. Der Typ mit der Nerd-Brille hiess Nick und seine Freundin, die, wie sich herausstellte, tatsächlich seine Freundin war, hiess Kate. Das McDonald‘s-Mädchen stellte sich mir gleich selbst vor; sie hiess Janice und ihre schwarzhaarige Freundin Sarah.

Nun, ich hatte selbst keine Ahnung vom Ausgangsleben in Lugano, wollte aber nicht wie ein Hinterwäldler wirken und gab deshalb den Kenner: «Was für eine Art von Party sucht ihr denn?» Alle schüttelten ein wenig denn Kopf und murmelten was von keine Ahnung. Wiederum ergriff Shaun das Wort und meinte, halt irgendeine Party, Hauptsache es würde etwas laufen. Ich wich aus, da ich keine Ahnung hatte, um ehrlich zu sein. «Nun, Freitage sind hier immer ein wenig schlecht. Partys sind eigentlich bloss Samstags. Das hier ist halt nicht Zürich.» Die Gruppe bedauerte das und schien ein wenig angeschissen.

Mir dämmerte aber schon bald, dass ich etwas vorschlagen musste, gesetzt den Fall ich wollte Janice nicht schon wieder aus den Augen verlieren. Ich schlug deshalb vor, dass wir ja zu mir ins Appartement gehen und etwas trinken könnten. Mein Vorschlag kam durchwegs positiv an und bald darauf gingen wir los in Richtung meiner Wohnung oder sagen wir, in Richtung der Wohnung meines Vaters.

Auf dem Weg dorthin erkundigte ich mich darüber, was sie denn hier in der Schweiz machen würden. Sie seien «US embassadors» meinte Shaun. «Ja genau, US Botschafter» ergänzte Sarah und lachte. Shaun führte die Sache mit den US embassadors ein wenig aus. Das sei eine Austauschorganisation für junge Menschen. Der kulturelle Austausch würde dabei im Vordergrund stehen. Sie würden hier während rund eines Monats kreuz- und quer durch die Schweiz reisen und sich verschiedene Dinge ansehen. «Natürlich sind wir mehr als nur fünf Leute» antwortete Shaun auf meine kritische Frage hin. «Aber die Anderen sind langweilig oder dämlich. Wir haben uns im Laufe des Monats gefunden. Nächste Woche reisen wir dann alle schon wieder ab. Es ist jetzt unser letztes gemeinsames Wochenende und wollen das noch ein wenig feiern!»

«Hey, ich finde es voll cool von dir, dass du uns zu dir in die Wohnung einlädst. Wäre sonst sicher langweilig geworden» sagte Janice und kniff mir dabei sanft in die Seite. Ich mochte es, dass sie das tat und ich hätte am Liebsten nach ihrer Hand gegriffen, aber ich traute mich nicht. «Kein Problem, ich lerne gerne neue Leute kennen, um mit ihnen zu feiern», antwortete ich. Das war natürlich ein Stück weit gelogen, denn eigentlich bin ich ja nicht so der offene Typ. Aber in dem Fall war es mal anders und es war irgendwie auch gut so.

Es dauerte nicht lange, bis wir vor dem weiss getünchten Wohnblock standen, in dessen obersten Stock mein Vater sein Appartement hat. Zu sechst drängten wir uns in den Lift, der eigentlich nur für fünf Personen gedacht ist. Doch die Enge im Lift hatte ihre gute Seite, denn sie erlaubte es mir, mich dicht an Janice heran zu zwängen, ohne dabei irgendwie verfänglich zu wirken. Ganz unmittelbar nahm ich den Duft ihrer Haare, ja den Duft ihres Körpers in mir auf. Ich liebe es, an Frauen zu schnuppern. Es ist tatsächlich so, dass ich daran merke, ob jemand mir sympathisch ist. Man sagt wohl nicht umsonst, dass man jemanden riechen kann oder eben nicht.

Nach einigen Sekunden Liftfahrt kamen wir im achten Stock an. Ich öffnete die Wohnung und zeigte sie meinen neuen Freunden. Die Wohnung gefiel ihnen. Besonders Nick, der Typ mit der Nerd-Brille, schien gefallen daran gefunden zu haben: «Oh cool, Corbusier-Sofas! Ich liebe diese Sofas, dieses Design! Dein Vater scheint echt Geschmack zu haben.» Ich wusste nicht so recht, was darauf antworten. Solche Dinge gehörten irgendwie wie selbstverständlich zu seinem Leben.

Nick wollte vermutlich auch gar keine Antwort meinerseits hören, denn er erzählte geradewegs weiter von Möbeln. Er schien sich damit echt auszukennen: «Wir haben zu Hause einen James Eames-Sessel rumstehen, der ist auch noch cool, aber Corbusier gefällt mir besser. Ich mag Chromstahl und dunkles Leder. Oder den Barcelona-Chair, den liebe ich auch!» Irgendwann fiel ihm Nicks‘ Freundin Kate ins Wort und entschuldigte sich für - er sei immer so, sobald er sich einmal über Kunst und Design warm geredet habe.

«Kein Problem! Ich finde es spannend» beschied ich ihr. Derweil erkundigte sich Sarah, ob ich irgendetwas zu futtern im Hause hätte. Das hatte ich nicht, schlug aber vor, dass wir uns Pizzas liefern lassen könnten. «Oh ja, coole Idee!» hiess es unisono. Also bestellten wir. Wenig später entdeckte Shaun die Mini-Bar meines Vaters. «Was meinst du - können wir vielleicht den einen oder anderen Schluck von dem hier trinken?» Er hob einen Single-Malt-Whiskey in die Luft, grinste und wartete auf meine Antwort. «Ja klar, komm, lass uns einige Gläser holen» Die Stimmung stieg augenblicklich.

Shaun und ich füllten die sechs Whiskey-Gläser so ziemlich randvoll und leerten damit gleichsam die Single-Malt-Flasche. Wir stiessen miteinander an und stürzten den Whiskey mit kräftigen Schlücken hinunter. Janice schien interessiert an mir zu sein, denn sie fragte mich über viele Dinge aus - und es gefiel mir, dass sie das tat: «Sag mal, was machst du eigentlich hier in der Wohnung deines Vaters? Und wo ist denn er? Was macht er so?» Nun, ich erzählte ihr die ganze Geschichte. Nicht so ausführlich, aber doch genug ausführlich, dass sie einen Eindruck davon bekommen konnte.

Natürlich interessierte es mich auch, wo sie alle herkamen. «Ich komme aus Boston» erzählte Janice «Aus der Stadt Boston selbst?» erkundigte ich mich, woraufhin Janice bejahte. Ich mag Boston irgendwie. Die Universitäten dort...Harvard und so. Janice erzählte, dass ihre Eltern eine Restaurantkette besitzen würden und dass das aber nicht so toll sei, wie alle meinten. «Sie sind kaum zu Hause oder wenn, dann stets gestresst.» Ich fühlte mit ihr, denn irgendwie kannte ich das selbst. Sie erzählte weiter, dass sie im Herbst ihr Psychologiestudium in Harvard beginnen würde, was ich wiederum auch sehr cool fand. Ich würde gerne in Amerika studieren. Von hier irgendwie wegkommen. Hier ist alles so beengend. Auch die Menschen sind beengt. Im Kopf. Sie sind irgendwie engstirnig und getrauen sich nicht, etwas aus zu probieren.

Die Anderen erzählten auch ein wenig von sich. Nick sei aus New York. Sein Vater sei Publizist, genau so wie Kates‘ Vater. Daher würden sie sich eigentlich auch kennen, denn geographisch wohnen sie weit auseinander, Kate stammt aus Portland/Oregon. «Unsere Väter haben uns zusammen gebracht» scherzte Kate. Shaun stammt aus der Gegend von San Francisco. Seine Eltern seien Immobilienhändler, was sehr und spiessig sei, wie Shaun sagte. «Momentan geht bei denen alles drunter und drüber. Nicht nur finanziell. Die haben gerade eine Krise oder so. Naja. Ich werd mich sowieso erstmal vom Acker machen und quer durch‘s Land ziehen. Etwas sehen. Mein Leben war bisher recht langweilig.» Und Sarah? Nun ja, ich weiss es gar nicht. Denn genau dann, als sie von sich erzählen wollte, klingelte der Pizzabote an der Türe.
Unsere Aufmerksamkeit galt fortan erst einmal den Pizzen, die hervorragend schmeckten. Ich bin mir gar nicht sicher, ob mir die Pizza wirklich derart schmeckte oder ob ich einfach den Moment genoss. Ich meine...hätte ich Janice nicht angesprochen wäre ich wohl alleine zu Hause herumgesessen und hätte TV geglotzt, aber jetzt sassen wir zu sechst in der Ferienwohnung meines Vaters, assen Pizza und tranken dazu Whiskey.

Nachdem wir unsere Pizzen verdrückt hatten, schlug ich vor, dass wir Kartenblasen spielen konnten. Es fiel mir schwer das zu glauben, aber offenbar kennt man dieses Spiel in den USA nicht. Dafür kannten sie wiederum andere Trinkspiele, die man bei uns nicht kennt. Nun ja, jedenfalls machten wir uns an einer weiteren Flasche Whiskey und hatten einen Mordsspass dabei. Und vor allem wurden wir immer betrunkener.

Janice, die neben mir auf einem der Sofas sass, lehnte sich irgendwann gegen meine Schulter. Ich spürte die Wärme ihres Körpers ganz deutlich und es schien mir so, als würde sie direkt durch meinen Körper selbst hindurchfliessen. Irgendwann nahm sie meine Hand, drehte mir ihren Kopf zu und begann mich zu küssen. Es war ein unglaubliches Gefühl, wie ich es schon lange nicht mehr erlebt hatte. Es war bestimmt zwei Jahre her, seitdem ich das letzte Mal ein Mädchen geküsst hatte. Ich wusste, dass es ein schönes Gefühl ist, aber dass es so schön war...

Während wir uns küssten und ich glaube, dass das lange dauerte, tranken die Anderen munter weiter und nicht wenig später waren sie derart betrunken, dass sie entweder auf dem Boden oder auf einem der Sofas einschliefen. «Komm, lass uns in‘s Schlafzimmer deines Vaters gehen» sagte Janice und sah mich lüstern an. Ich wusste, was nun geschehen würde, aber ich war kaum nervös. Ich nahm sie an der Hand und zog sie mit mir. Sofort nachdem ich die Türe schloss, fielen wir übereinander her; ich zog sie aus, sie zog mich aus. Dann hielt sie plötzlich kurz inne und schaute mir tief in die Augen: «Ich mag dich wirklich, Jérôme. Das mach ich nicht einfach so und mit jedem. Du bist etwas Spezielles, du bist nicht wie alle Anderen. Ich sehe es in deinen Augen. Wir teilen dasselbe Schicksal. Lass uns leben und unsere Jugend geniessen.» Sie sprach mir damit so aus der Seele. Wenig später taten wir es miteinander und es war wunderschön. Nicht so, wie viele sagen, dass das erste Mal nicht schön sei.

Am nächsten Morgen, es war gegen 9 Uhr, wurden wir plötzlich und ziemlich unsanft durch lautes, italienischsprachiges Geschrei einer Frau geweckt. Und es kam nicht etwa von draussen, sondern direkt vom Flur des Appartements. Reflexartig sprang ich auf und riss die Türe auf. Dort stand eine dickliche, ältere Frau, die wild meine amerikanischen Freunde beschimpfte. Wie sich herausstellte war sie die Putzfrau meines Vaters und sie hielt uns für Einbrecher oder sowas in der Art. Zum Glück konnte ich sie schnell wieder beruhigen, indem ich ihr meinen Ausweis zeigte und sie sehen konnte, dass ich denselben Nachnamen wie mein Vater hatte.

Meine reichlich verkaterten Freunde verabschiedeten sich, denn sie mussten zurück in ihre Herberge, da sie noch einen Ausflug vor sich hatten. Wir tauschten noch kurz E-Mail-Adressen aus und versprachen uns gegenseitig uns zu schreiben. Beim Verabschieden drückte mich Janice fest und lange an sich, schaute mir danach tief in die Augen und sagte «ich bin froh, dass ich dich kennengelernt habe! ich mag dich!» Noch ein letztes Mal drückte sie sanft meine Hand, gab mir einen letzten Kuss und huschte nach Draussen zu den Anderen, wo diese bereits warteten.

Dienstag, 10. August 2010

Fünfunddreissigster Eintrag

Es war merkwürdig im Bett meines Vaters zu schlafen. Es war so ein Gefühl beklemmender Fremdheit. Irgendwie. Ich hätte genau so gut in einem Hotelzimmer schlafen können. Nur wäre es dort wohl angenehmer gewesen. Stattdessen musste ich immer daran denken, dass auch mein Vater in diesem Bett geschlafen hat. Je länger ich über alles nachdenke, desto mehr ekelt mir vor ihm; sein Lebensstil, sein Geld und wie er von den Dingen davonläuft.

Ich musste nach draussen und mich von der Tristesse dieser Wohnung entziehen. Dass dort die Sonne schien und es angenehm warm war, vermochte meine Stimmung aber nur unwesentlich zu bessern. Es kam mir so vor, als hätte jemand eine grosse Käseglocke über mich gestülpt. Da es bereits schon Mittag war, schlenderte ich zur Piazza vor dem Stadthaus. Dort liess ich mich in einem der zahlreichen Restaurants nieder. Eigentlich hatte ich noch gar keinen Hunger, aber mir kam irgendwie nichts Besseres in den Sinn und so ass ich einfach mal einen Teller Tortelloni Salvia e Burro. Im Nachhinein mag ich mich nicht mehr so recht daran erinnern, aber ich glaube es schmeckte mir.

Die Zeit verging sehr langsam. Als ich fertiggegessen hatte, war es erst so gegen zwei Uhr. Ich versuchte die Zeit tot zu schlagen und durchstreifte deshalb die Altstadt Luganos. Ist eigentlich schon mal jemandem aufgefallen, dass es in allen grösseren Städten dieselben Läden zu geben scheint? Bulgari, Cartier, H&M, Luis Vuitton, Ralph Lauren, Tally Weijl, United Colors of Benetton. Irgendwann kam ich bei einem Juwelier vorbei, der eine Uhr in der Auslage hatte, welche mir sehr gut gefiel. Es war eine Baume & Mercier mit wildledernem Armband und klassischem, eher puritanischen Zifferblatt. Es war ein Occasionsangebot, das nur 600.- kostete. Nun ja, mein Vater hatte mir ja Geld übrig gelassen. Ich kaufte mir die Uhr. Mit den verbleibenden 200.- würde ich mich ja ohne Weiteres noch einige Tage durchschlagen können.

Eine Weile lang empfand ich Freude über den Kauf der Uhr, doch schon bald darauf kehrte irgendwie wieder dieses Gefühl merkwürdiger Leere zurück. Ich ging hinunter zur Seepromenade und ging dieser einfach mal entlang. Selbige mündete an ihrem Ende in einen Park. Dort liess ich mich auf einer schattigen Parkbank nieder und legte mich quer auf sie hin. Ich fühlte mich unbedeutend, schwer und erschöpft und hatte gleichzeitig das Gefühl, dass ich mich in Luft auflösen würde.

Ich schloss meine Augen und lauschte dem Gesang der Vögel, hörte das weit entfernte Brummen der Autos und einzelne Stimmfetzen vorbeipromenierender Parkbesucher. Es dauerte nicht lange und ich schlief ein. Ein wohlig warme, aber nicht klar erkennbare Traumlandschaft entfaltete sich vor meinem inneren Auge. Ich spürte ganz klar die Präsenz irgendeines Wesens, eines weiblichen Wesens, das mit mir war, das meine Hand hielt und mir zu spüren gab, dass sie mich lieben würde und ich versuchte ständig ihr Gesicht zu erkennen, doch ich konnte nicht, es ging nicht. Sie blieb verschwommen und unklar, doch ich spürte sie, ich spürte eine merkwürdige körperliche Verbindung - so als sei sie Teil von mir, so als hätte sie schon immer zu mir gehört und so als hätte ich sie nun endlich gefunden. Der Klang meiner Stimme widerhallt noch immer in meinem Kopf, denn irgendwann fragte ich sie «Bist es du?» und sie antwortete «Ja» und es war gut für mich.

Wie der Traum weiterging, weiss ich nicht mehr genau. Ich mag mich bloss noch daran entsinnen, dass ein selten schönes Glücksgefühl mich durchströmte. Dann irgendwann erwachte ich. Ein wild plärrendes Kleinkind riss mich aus meinen Träumen. Ich empfand es jedoch nicht als weiter schlimm, denn ich schlief gut und gerne eineinhalb Stunden lang. Als ich mich wieder aufrichtete, wurde mir kurz schwarz vor den Augen und ich musste mich konzentrieren, dass ich nicht zu Boden fiel. Langsam und behutsam stand ich auf und ging vorsichtig einige Schritte. Die Käseglocke, die jemand über meinen Körper gestülpt zu haben schien, war noch immer nicht verschwunden. Ich fühlte mich so, als hätte ich gerade erst einige Joints nacheinander geraucht. Langsamen und unsicheren Schrittes ging ich nach Hause und beschloss, mich nochmals ein wenig hinzulegen.

Ich schlief nochmals etwas mehr als eine Stunde. Es ist nun 19 Uhr und ich weiss nicht wirklich, was ich mit dem Abend anfangen soll. Vermutlich werde ich noch ein wenig nach draussen spazieren gehen. Etwas essen vermutlich auch noch.

Montag, 9. August 2010

Vierunddreissigster Eintrag

Kurz bevor ich heute meine Reise nach Lugano antrat, erreichte mich ein SMS von meinem Vater. Er schrieb, dass er leider doch nicht da sein und mich treffen könne, da er für ein wichtiges Projekt kurzerhand nach England verreisen müsse. Er könne mir leider keine weiteren Details nennen. Hmm. Und er schlug vor, dass wir das ganze doch per Mail diskutieren könnten.

Irgendwie bin ich enttäuscht. Klar, er kann nichts dafür, dass er weg muss. Aber ich hätte trotzdem gerne mit ihm über seine Vergangenheit gesprochen, weil es geht ja dabei auch um mich. Nun, mein Vater schlug dann noch vor, dass ich ja trotzdem ein wenig Ferien in Lugano machen könnte. Er hätte jedenfalls den Schlüssel bei der Nachbarin deponiert und ich könnte jederzeit seine Wohnung benutzen.

Ich schlug das Angebot nicht aus, da ich weg von zu Hause muss. Keine Ahnung weshalb, aber hier zu sein ist nicht gut. Ich will raus in die Welt, etwas sehen, etwas erleben. Hier zu Hause ersticke ich nur. Einige Stunden später befand ich mich in Lugano. Bisher war ich noch nie in dieser Wohnung meines Vaters. Er hat sie noch nicht sonderlich lange. Ich staunte nicht schlecht; sie liegt mehr oder weniger direkt am Lago di Lugano, d.h. man hat einen wunderbaren Ausblick darauf. Die Wohnung liegt in der obersten Etage eines weissen, ungefähr 30-Jährigen Wohnblocks mit merkwürdig verwinkelten Balkonen.

Die Nachbarin, eine freundliche und gepflegte ältere Dame händigte mir den Hausschüssel ohne weitere Umstände aus. Gespannt öffnete ich die Türe, trat ein und fand die Wohnung erstmal ziemlich toll. Sie hat einen dunklen Parkettboden und ein Sonnendurchflutetes Wohnzimmer mit einer offenen Küche. Im Wohnzimmer stehen zwei grosse Corbusier-Sofas über denen sich jeweils ein grosses Gemälde befindet. Neben einem der Sofas steht ein kleiner Barwagen mit verschiedensten Spirituosen. Geht man im Flur am Wohnzimmer vorbei, findet man noch ein Schlaf- und Arbeitszimmer, sowie ein grosszügiges, komplett mit schwarzen Mosaiksteinen ausgekleidetes Badezimmer.

Im Wohnzimmer setzte ich mich erst einmal hin auf eins der Sofas und schaute mich um. Das Sofa war wunderbar angenehm, aber irgendetwas war komisch. Nach einer Weile wurde mir klar, dass es nach nichts roch. Üblicherweise riecht es in allen Wohnungen nach irgendwas. Doch hier fiel mir ausser dem Ledergeruch der Corbusier-Sofas nichts auf. Es roch einfach nach gar nichts. Ich fand das irgendwie merkwürdig und wanderte ein wenig in der Wohnung umher. Im Schlafzimmer, wie auch im Arbeitszimmer war es nicht anders.

Ganz allgemein fiel mir auf, dass da nicht viel war. Im Schlafzimmer lediglich ein Bett und ein alter Aktenschrank, indem sich Stapel gebügelter weisser Hemden befanden. Im Arbeitszimmer stand lediglich ein USM-Haller Ecktisch, sowie ein Haller-Sideboard und ein grosser schwarzweiss Fotodruck, der über dem Sideboard hing. Auf dem sauber aufgeräumten Arbeitstisch stand verloren ein iMac herum.

Hier war alles sehr Funktional und ich vermisste irgendwie die persönliche Note. Ich durchsuchte das Haller-Sideboard und den Korpus nach persönlichen Notizen oder Gegenständen, fand bis auf einige Abrechnungen nur wenig. Es lagen jedoch auffällig viele Magazine herum, wie z.B. GQ, Vanity Fair oder Monocle. Mein Vater schien mir plötzlich ziemlich fremd. Ja schon seit einigen Tagen schien er mir ziemlich fremd zu sein. Was weiss ich überhaupt über ihn? Wer ist er?

Ich bekam Hunger und wollte mir etwas aus dem Kühlschrank holen. Dieser war jedoch bis auf ein Glas Essiggurken und eine Senftube komplett leer. Als ich mich umdrehte entdeckte ich auf der marmornen Arbeitsfläche der Küche einen Umschlag, der mit meinem Namen adressiert war. Ich öffnete ihn behutsam und zog ein gefaltetes Stück Papier heraus, indem sich eingeklemmt einige Hunderternoten befanden. Auf dem Zettel stand mit flüchtiger Schrift geschrieben

Hallo Jérôme


Es tut mir leid, dass wir uns nicht sehen können, aber mir ist etwas dazwischen gekommen und ich musste kurzfristig verreisen. Da gerade nichts mehr im Kühlschrank ist, lasse ich dir ein wenig Geld da, damit du dir etwas zu Essen und evtl. auch sonst noch etwas kleines leisten kannst.


Alles Liebe
Papi


Nun, etwas Kleines ist gut...es waren 800.-, die er mir kurzerhand hier gelassen hat. Irgendwie fand ich das toll, aber irgendwie auch pervers; es hätte jetzt wirklich nicht so viel sein müssen.

Da es Sonntag war und die Läden geschlossen hatten, entschloss ich mich in ein Restaurant zu gehen. An der Promenade und in der Altstadt Luganos gibt es ziemlich viele verschiedene Restaurants. Viele davon sehen auch ziemlich teuer aus. Aber ich hatte nicht wirklich Lust darauf, in so ein steifes Lokal zu sitzen und lange auf mein Menu zu warten. Deshalb ging ich ganz einfach in die McDonald's-Filiale neben der Seepromenade und bestellte ein Cheesburger Royal Menu.

Als ich mein Menü innerhalb von weniger als einer Minute erhielt, setzte ich mich an irgendeinen der Tische und starrte ein wenig vor mich hin. Mich faszinierte die Hohe Decke in diesem McDonalds. Sie war mit einer Stuckatur überzogen, welche mir gut gefiel. Wenig später fiel mein Blick jedoch auf eine Gruppe gleichaltriger, die einen Tisch weiter weg sassen. Sie waren zu fünft; zwei Typen und drei Mädchen. Und sie waren englischsprachig; der Aussprache nach stammten sie aus den USA. Sie hatten viel Spass miteinander; neckten sich gegenseitig usw.

Eigentlich sofort fiel mir eins der Mädchen auf. Sie hatte glattes, dunkelblondes Haar und grosse, braune Augen. Schminke trug sie keine oder zumindest trug sie sie so, dass sie mir nicht auffiel. Sie hatte so etwas total authentisches und natürliches an sich. Wenn sie lachte, wenn sie um sich schaute und auch als sie mich kurz anschaute. Unsere Blicke trafen sich nur ganz kurz, aber es schien mir, als sei es eine halbe Ewigkeit gewesen. Ich fühlte mich, als würde ich unter Strom stehen. Doch in diesem Moment war es ein schönes Gefühl, unter Strom zu stehen.

Ich suchte in der Folge immer wieder ihren Blick, doch sie sah mich nicht mehr an. Nachdem ich mein Menü verdrückt hatte und sie noch eine Weile angestarrt hatte, stand ich auf und entsorgte meine Essensresten. Ich lief an ihr vorbei und blickte sie noch ein letztes Mal an und auch sie sah mich an. Kurz aber intensiv. Abermals durchflossen mich tausende Volt und meine Gefühle spielten für einen Augenblick verrückt; einerseits fühlte ich mich gut, denn sie hatte mich offenbar bemerkt. Nur half mir das wenig, da ich sie wohl nie mehr sehen würde.

Ein wenig geknickt ging ich zurück in die Wohnung meines Vaters, schaltete die Glotze ein und sah mir eine langweilige Dokumentation über irgendwelche seltenen Tierarten. Gedanklich war ich jedoch beim Mädchen aus dem McDonald's. Und bei Aline...

Sonntag, 8. August 2010

Dreiunddreissigster Eintrag

Ich verliess Balatonberény am nächsten Morgen mit einem der ersten Züge in Richtung Schweiz. Onkel Laszlo fuhr indes nach Budapest um dort bei der französischen Botschaft einige Abklärungen zu machen. Es scheint ihm wirklich ernst zu sein mit dem Auswandern.

Die Zugfahrt verlief gut und ohne weitere Zwischenfälle, lediglich die Fahrt zu Beginn der Heimreise mit den Regionalzügen war unheimlich langsam. Während vor dem Zugfenster die immergleichen verwilderten Landschaften mit den vielen verlassenen Häusern und verrosteten Industrieanlagen vorbeizogen, las ich mich durch den «Fänger im Roggen». Je länger ich las, desto mehr gefiel mir die Geschichte. Ganz allgemein scheint von der Literatur eine tröstende Kraft auszugehen. Ich dachte über mein Verhältnis zu Hampi nach. Vielleicht ist er doch nicht so eine schleimscheissende Puppe ohne Inhalt. Vielleicht ist er sogar in Ordnung.

Gegen 1 Uhr nachts kam ich dann zu Hause in Zürich an. Es fuhr schon kein Tram mehr, weshalb ich ein Taxi nahm. Obwohl es mir ziemlich reizte, fragte ich den Taxifahrer nicht, ob er wisse, wo die Enten im Zürisee während des Winter blieben. Als ich nach Hause kam, stellte ich fest, dass meine Mutter mittlerweile aus den USA zurückgekehrt ist; im Entrée-Bereich standen ihre Koffer noch herum. Auch Hampi schien hier zu sein, denn es roch nach seinem Parfum, welches ich nicht leiden kann. Da mich die Reise ziemlich ermüdet hat, ging ich bald darauf schlafen.

Am nächsten Morgen weckte mich meine Mutter gegen elf Uhr. Sie klopfte an meine Tür und öffnete selbige.
- Hallo Jérôme. Schön dich endlich wieder zu sehen! Wie geht es dir? Bist du ausgeschlafen? War's gut bei Onkel Laszlo?
Hinter ihr stand Hampi ein wenig unbeholfen herum. Er schaute meine Mutter kurz über die Schulter und sagte mir ebenfalls Hallo.
- Hej. Ausgeschlafen noch nicht wirklich, aber die Reise war so weit gut. Mit Laszlo hatte ich viele gute Gespräche. Und ach übrigens, danke für das Buch, Hampi.
- Ach, keine Ursache. Konntest du es schon zu lesen beginnen?
- Ja, klar. Ich habe es durchgelesen. Es war ganz okay.
- Schön.
Er schien ihm irgendwie Freude zu machen, dass ich das Buch gelesen hatte. Hmm..Meine Mutter schlug vor, gemeinsam Mittagessen zu gehen. Ich war einverstanden. Hampi meinte jedoch, dass er noch ein paar Sachen bei sich zu Hause vorbereiten wolle. Auch das war mir Recht, um ehrlich zu sein.

Wir gingen ins Tibits. Das ist so ein Vegi-Restaurant unweit von uns entfernt. Ich bin zwar kein Vegetarier wie meine Mutter, ging aber trotzdem mit.

Als wir dort draussen an einem der Tische sassen und assen, wollte meine Mutter mehr über die Campingferien wissen, konnte es aber nicht lassen, mich schon wieder zu tadeln
- Und war es wenigstens toll, wenn du dafür schon die Nachhilfe hast sausen lassen?
- Ich hab nicht deswegen die Nachhilfe sausen lassen; der Lehrer riet mir davon ab, weiterhin zu komen.
- Ja, weil du total unmotiviert gewesen seist. Das kommt ungefähr auf dasselbe heraus.
- Hast du dir schon einmal die Frage gestellt, weshalb ich unmotiviert gewesen sein könnte?
- Na klar, mir scheint einfach, du begreifst nicht, um was es hier geht. Es geht um dein Leben!

Ich verspürte keine Lust, ihr die ganze Sache mit Aline zu erzählen und gab deshalb den wahren Grund für meine damalige Demotivation nicht an. Aber im Prinzip ging es ja in meiner Antwort um dasselbe

- Meinst du denn, dass das Leben nur aus Schule und guten Leistungen bestehe? Ich finde meinen Weg schon irgendwie. Mein Gott, man könnte ja meinen, ich sei der totale Versager!
- Ich mache mir halt Sorgen und ich will nicht, dass du nach deinem Vater kommst; dass du vor allen Schwierigkeiten im Leben fliehst.

Sie verstummte eine Weile und auch ich sagte nichts Weiter, da mich die ganze Sache mit meinem Vater zu Letzt arg verwirrt hatte. Irgendwann fuhr meine Mutter fort zu sprechen, wobei ihr selbiges sehr schwer fiel. Ihre Augen wurden feucht und sie schien nur mit Mühe ihre Tränen zurückhalten zu können.

- Du kennst ja jetzt die Geschichte, du weisst ja jetzt, was dein Vater uns damals angetan hat, oder? Laszlo hat es dir doch alles erzählt, oder?
- Ja...das hat er....

Meine Mutter verbarg ihr Gesicht in ihren Händen und rang sichtbar bewegt mit ihren Gefühlen.

- Es tut mir so leid, dass ich dir das nicht selbst erzählt habe, aber ich konnte es einfach nicht...es tat so weh...ich wollte bloss, dass du so normal aufwachsen konntest, wie es halt ging. Aber irgendwann musstest du alles auch mal erfahren

Sie wollte noch weiterreden, aber konnte nicht mehr, denn ihre Gefühle übermannten sie. Es war alles sehr unangenehm für mich. Sie tat mir ja Leid und ich sehe meine Mutter seit einigen Tagen in einem völlig anderen Licht, aber ich war wie blockiert. Ich konnte sie weder trösten, noch irgendwie sonst reagieren. Die Situation überforderte mich und ich wollte bloss nur noch weg.

Wir verliessen den Ort wenig später. Ich lag zu Hause auf meinem Bett und dachte über alles, was ich in den letzten Tagen so erfahren hatte nach, als mich ein SMS von Aline erreichte. Ich hatte sie vor einigen Stunden gefragt, ob wir uns treffen könnten, aber sie ist leider noch für einige Tage weg in den Ferien, wie sie mir schrieb. Aber danach würden wir uns sehr gerne treffen können, meinte sie.

Ich lag weiterhin in meinem Bett, döste ein wenig und hörte im Hintergrund Death Cab For Cutie. Seit einiger Zeit mag ich diese Band wirklich sehr. Im Verlaufe der Zeit wurde mir immer mehr bewusst, dass in mir ein grosses Bedürfnis herrscht, mit meinem Vater über all diese Dinge zu reden. Ich möchte seine Version der Geschehnisse hören. Deshalb schrieb ich ihm kurzerhand ein SMS, fragte ihn, wo er sei und sagte ihm, dass ich gerne mit ihm reden würde. Wenig später schrieb er mir zurück, dass er im Tessin sei und gerade ein wenig ausspanne. Ich könne gerne vorbeikommen; am Besten gleich morgen. Die Idee ist gut, wie ich finde. Auch meine Mutter meinte, dass es wohl nicht schaden könne. Morgen werde ich jedenfalls für ein paar Tage nach Lugano verreisen.

Freitag, 6. August 2010

Zweieunddreissigster Eintrag

Den heutigen Tag verbrachte ich grösstenteils unten am See mit Faulenzen, Sonnen und Nachdenken. Laszlo hatte heute nicht gross Zeit um etwas mit mir zu unternehmen, da er noch einen Zeitungsartikel verfassen musste. Er schlug mir vor, ein wenig mit seinem Ruderboot, das sich unten am See in einem kleinen Bootshäuschen befindet, hinaus zu rudern und einfach einmal nichts zu tun. Die Idee gefiel mir, denn der Himmel war strahlend blau und die Hitze drückend. Ich ruderte ziemlich weit raus, bis das Bootshäuschen nur noch ein kleiner Punkt in der Ferne war. Dann legte ich mich auf den hölzernen Boden des Boots, schloss die Augen und genoss die Sonne. Sanft schlugen kleine Wellen gegen Seiten der Nussschale und schaukelten sie sanft hin- und her.

Irgendwann begann ich über das Gespräch von gestern Nachmittag nachzudenken. Das Leben also in die Hand nehmen und sein Schicksal selbst bestimmen. Hmm, das hat schon etwas. Ich stellte mir vor, dass man wohl so etwas wie der Steuermann seines eigenen kleinen Schiffchens ist, dass da auf einem grossen, weitem See, dem Leben, so vor sich hintreibt. Man kann sich zwar weiterhin von Wind und Wellen treiben lassen, das ist angenehm und gemütlich, aber man weiss nie, wohin sie einen schliesslich treiben werden. Auch wenn eine Fahrt ins Ungewisse hinaus durchaus spannend und aufregend sein kann, so ist doch die Gefahr gross, dass man plötzlich irgendwo ins Schilf abdriftet oder gar in Seenot gerät. Nimmt man die Ruder jedoch selbst in die Hände, so vermeidet man dies und bestimmt selbst, wohin die Reise gehen soll. 

Dieses Gedankenbild gefiel mir eine Weile lang, doch schon wenig später kam es mir wieder absurd und kindisch vor. Pseudointellektuelles Gedankenzeugs. Ich liess das Überlegen sein und las einige Seiten in diesem Buch, das mir Hampi geschenkt hat. Naja, es stimmt tatsächlich, was einige sagen; dieses Buch ist irgendwie noch gut und ich erkannte sogar einige Parallelen zu mir selbst. Ich glaube dieser Typ aus dem Buch, dieser Holden, hatte selbst auch noch keinen Sex. Ich meine, weshalb rastete er sonst so aus, als sein Zimmergenosse ein Mädchen datete und möglicherweise mit ihm Sex hatte? Hmm, in letzter Zeit häuft sich bei mir der Drang, es endlich auch zu tun. Ich meine...neulich hab‘ ich irgendwo gelesen, dass ein Typ durchschnittlich mit 16 das erste Mal hat. Und ich werde in einigen Monaten 19. Naja. 

Ich fragte mich, ob mein Vater damals ähnlich passiv wie ich durchs‘ Leben ging und ob ich dann irgendwann einmal ähnlich rauskommen würde wie er, weil ich „nicht gelebt“ hatte. Es machte mir irgendwie Angst. Auch das, was mit Laszlos verstorbener Frau Juliana geschah. Beide waren seit Studienzeiten ein glückliches Paar und es deutete nichts darauf hin, dass sich das jemals ändern würde und dann, es war während den Sommerferien, die sie in Padua verbrachten, zog ein Sturm auf und fegte einen Ziegelstein von einem Dach, der Juliana schliesslich am Kopf traf. Sie fiel in der Folge unglücklich auf ihren Hinterkopf und verstarb wenig später an inneren Blutungen. Ich meine, der Tod scheint eine so beliebige Sache zu sein - wer weiss schon was morgen sein wird? Es wäre daher verdammt schade, wenn man sein Leben quasi vergebens gelebt hätte. Wenn man nie wirklich richtig gelebt hätte, bloss, weil man auf „den Richtigen Zeitpunkt“ gewartet und alle wichtigen Entscheidungen ständig hinausgezögert hätte. Am  Ende ist man tot und hat all seine Chancen verstreichen lassen und nichts erlebt. Wie einer, der Ferien in Paris macht und zwei Wochen lang sein Hotel nicht verlässt.

Diese Gedanken machten mir irgendwie traurig und ich beschloss mich auf Anderes zu konzentrieren, wie zum Beispiel den sanften Wellengang. Ich wurde schon bald von einer wohltuenden Müdigkeit erfasst und entschlief. Als ich wieder aufwachte, ich schätze ich schlief wohl so eine halbe Stunde, war das Boot doch prompt um einige Kilometer von seiner vorherigen Position abgedriftet. Ich setzte mich daher an die Ruder und verbrachte wiederum gut eine halbe Stunde damit, um wieder zum Bootshäuschen zurückzurudern. 

Zurück bei Laszlo setzte ich mich kurz an seinen Computer und überprüfte mein Facebook-Profil. Aline hatte in der Zwischenzeit auf meine Nachricht geantwortet! Mit wild pochendem Herzen las ich ihre 
Nachricht:

Hej Jérôme!
Danke für deine Nachricht! Ich weiss gar nicht recht, was ich schreiben soll...womit soll ich beginnen? Ich bin froh, dass du so offen und ehrlich mit mir bist und keine Spielchen spielst...ich hätte diesen Schritt von mir aus jedenfalls nie gewagt und das mit uns angesprochen...weisst du, eigentlich fühle ich genau so wie du und gleichzeitig schäme ich mich dafür, denn ich habe ja eigentlich einen Freund. Nur scheinst du so viel mehr der Mann zu sein, wie ich ihn mir als Freund wünsche. Aber weisst du, es ist eben trotzdem so, dass ich Sascha liebe, auch wenn er manchmal ein totales Arschloch ist. Ich bin super unvernünftig, ich weiss und ich wundere mich jedes Mal aufs Neue über mich selbst und meine Gefühle ihm gegenüber. Ich war wohl einfach zu lange in ihn verliebt, das kleine Mädchen aus der Klasse unter ihm, das Mädchen, das ihm nie auffiel und dem er nie Beachtung schenkte und jetzt, jetzt bin ich wohl einfach unendlich froh, dass er mich endlich entdeckt hat. Ach, ich weiss echt nicht, was sagen und schreiben, ich stehe da gerade fürchterlich zwischen zwei Männern...ich hoffe einfach, dass wir irgendwie einen Weg miteinander finden. Was ich mit diesem Satz sagen will, weiss ich selbst nicht so recht, aber ich lass‘ ihn trotzdem so stehen. 
Bis bald! Ich drücke dich fest, 
Aline

Nachdem ich ihre Zeilen gelesen habe, bin ich so ratlos wie zuvor. Was will sie mir nun damit sagen? Sieht sie für uns eine Zukunft oder nicht? Weiss sie es überhaupt selber? 

Donnerstag, 5. August 2010

Einunddreissigster Eintrag

Abendstimmung in Balatonberény

Nach einem ausgiebigen Frühstück gingen wir runter an den See, um dort zu fischen. Bisher war ich noch nie fischen, aber es ist irgendwie angenehm. Laszlo nennt es eine "verlangsamende Tätigkeit". Alles sei heute so schnell und unbeständig. Was gestern noch galt, gelte heute schon nicht mehr; Wertvorstellungen, wie wir über den Kapitalismus denken und was die Menschen in einem Land zusammenhält. Das Fischen hingegen bleibe. Es sei schon seit Jahrhunderten dasselbe.

Naja, ich weiss nicht genau wie er das gemeint hat. Es ist ja normal, dass sich die Dinge ändern. Die Mode, Freunde und unsere Zukunftspläne. Ich hatte nie das Gefühl, dass etwas bleibt oder länger Bestand haben würde. Es ist wie mit diesem Panta Rhei-Zeugs. Alles befindet sich in einem stetigen Wandel.

Wir fischte, ohne gross zu sprechen. Irgendwann sprach Laszlo mich auf mein Verhältnis zu meiner Mutter an.
- Deine Mutter bat mich ja dich für einige Tage hier bei mir aufzunehmen. Turbulente Zeiten momentan, wie?
- Naja, sie hat halt Panik und macht die ganze Zeit wie bescheuert Stress wegen der Schule und steckte mich in einen Nachhilfekurs.
- Ja, das sieht ihr irgendwie ähnlich. Früher als sie selbst noch Studentin war, war sie auch so enorm strebsam. Sie glaubt eben es gebe nur diesen Weg und ist da ein wenig engstirnig
- Mein Vater hat es aber auch geschafft, ohne dass er stets die Besten Noten hatte...
- Ok, aber dein Vater ist sowieso ein Spezialfall. Da weisst ja, dass ich nicht sehr viel von ihm halte
- Ich weiss, aber weshalb eigentlich? Ich habe das nie so recht verstanden und Mutter spricht praktisch kein Wort über ihn
- Sie verdrängt es halt wie so vieles in ihrem Leben. Willst du die ganze Geschichte hören?
- Klar!
- In Ordnung. Du kennst diesen Teil der Geschichte sicherlich bereits. Aber der Vollständigkeit halber erzähle ich ihn trotzdem nochmals. Es war 1988, also kurz vor der Wende, als dein Vater deine Mutter kennenlernte. Es war in Budapest am Palatinus Strand. Dein Vater machte damals gerade dort Ferien. Er war ganz alleine dort und ich fragte mich oftmals, weshalb er alleine reiste. Vermutlich wollte er irgendwelche Frauen aufreissen. So zumindest schätze ich ihn ein. Er war ein getriebener Taugenichts. Immer auf der Suche nach irgendetwas, das die Leere in seinem Innern auffüllen würde. Jedenfalls sah er deine Mutter am Palatinus und sprach sie an. Sie sprach damals zwar nur schlecht Deutsch, aber es hinderte deine Mutter nicht daran, sich in deinen Vater Hals über Kopf zu verlieben. Es war wohl jugendliche Naivität. Marika war damals 22 und dein Vater 26. 1989 floh deine Mutter über die Grenze nach Österreich und dann in die Schweiz nach Zürich, wo dein Vater zusammen mit Anarchisten ein Haus besetzt hatten.

Marika gefiel dieser Lebensstil; es war so total etwas Anderes, als das, was sie bisher kannte. Sie wurde von der braven, strebsamen Studentin zur Anarchistin oder zumindest zu etwas, von dem sie meinte, es sei anarchistisch und das, was sie wirklich wollte. Ihr Leben wurde eine Zeit lang geprägt von Drogen, Alkohol und politischen Veranstaltungen, die aber niemand ausser einer Handvoll anderer Anarchos interessierten.

Im Winter 1991 wurde Marika dann schwanger mit dir. So hart das nun auch klingen mag, aber du warst in dem Sinne nicht "geplant". Als du zur Welt kamst, veränderte sich einiges. Es fehlte Marika und deinem Vater an Platz und Geld und dein Vater, der in der Zwischenzeit sein Politikstudium abgeschlossen hatte, suchte einen Job. Er wurde bei einem grossen amerikanischen Unternehmensberater fündig. Es kam deswegen zum Zerwürfnis mit seinen Anarchistenfreunden, denn diese fanden, er hätte sich und seine Überzeugungen an "den Kapitalismus" verraten. Er und deine Mutter innerhalb einer Woche die Kommune verlassen. Mit viel Glück fanden sie eine Wohnung in einem tristen Hochhaus am Rande der Stadt. Deine Eltern verloren innert kürzester Zeit ihr gesamtes soziales Umfeld und fortan gab es nur noch dich, deine Mutter und deinen Vater.

Dein Vater arbeitete hart und bis spät Abends und er stieg rasch auf. Nur schien dieses zugegebenermassen kleinbürgerliche Leben nichts für deinen Vater zu sein. Er war und blieb in seinem tiefsten Inneren ein Filou, der sich eigentlich zu Höherem bestimmt sah.

- Halt mal, aber woher weisst du das alles so genau? Wie kannst du das behaupten?
- Guter Einwand. Wie du weisst, kam ich selbst kurz nach der Grenzöffnung ebenfalls in die Schweiz, weil man mir in Berner Universität eine Assistenzstelle angeboten hatte. In der Zeit nach deiner Geburt telefonierte ich häufig mit Marika und besuchte sie so oft es ging, denn sie litt damals stark unter der neuen Situation. Ich bekam so dann doch einiges mit über deinen Vater und seiner Weltsicht, die mir mehr und mehr zynisch und egoistisch zu sein schien. Dann schliesslich, du warst nicht ganz drei Jahre alt, verliess euch dein Vater. Mit der Begründung, dass er "leben müsse" und in diesem Leben ansonst ersticken würde. Dein Vater behauptete gegenüber deiner Mutter, dass er auf einer Geschäftsreise sei. Von dieser kam er jedoch nie mehr wieder zurück. Deine Mutter erhielt lediglich einen Brief, indem er sich entschuldigte und eben schilderte, dass er leben müsse und dazu erhielt sie fortan monatlich eine Alimentszahlung, deren Summe über die Zeit hinweg immer grösser und grösser geworden ist.

Doch diese Zahlungen vermochten die Risse im Herz deiner Mutter nicht zu kitten. Ihr Lebensentwurf hatte sich innert kürzester Zeit im Nichts aufgelöst und sie wurde im Verlaufe der Zeit zu einem anderen Menschen; sie stürzte sich in die Arbeit und begann alle möglichen Dinge zu verdrängen.

- Aber ich mag meinen Vater. Ich sehe ihn zwar nicht häufig, aber wenn, dann haben wir es immer gut. Mutter stänkert nur herum und engt mich ständig ein.
- Du bist ihr eben wichtig, denn du bist eben das Einzige, was ihr verblieben ist. Sie hat Angst, das du auf die schiefe Bahn geraten könntest. Logisch hast du es mit deinem Vater gut, wenn ihr euch seht. Wie oft ist das? Einmal in vier Monaten?
- Kommt etwa hin...
- Eben. Er glaubt wohl mit einem tollen Ausflug irgendwohin und teuren Geschenken würde er etwas zu deiner Erziehung beitragen. Aber das ist doch Blödsinn. Erziehung bedeutet Konflikte austragen und Grenzen aufzeigen, nicht alles durchgehen zu lassen. Weisst du, im Leben deines Vaters sind vor langer Zeit viele Dinge aus dem Gleichgewicht geraten. Wie er deiner Mutter gegenüber einmal erwähnte, hatte er keine eigentliche Jugend. Keine wirkliche Freundin und kaum Freunde und ein zerstrittenes Elternhaus.

Als dein Vater mit 21 Jahren letztlich von zu Hause auszog, änderte sich sein Leben schlagartig. Offenbar musste er all jene Dinge nachholen, die ihm in seiner Jugend verwehrt geblieben sind: Frauen, unvernünftig sein, Drogen, Alkohol, Rebellion. Von diesem Trip ist er wie es scheint auch heute noch nicht heruntergekommen. Das grösste Problem deines Vaters ist es, dass er nicht weiss, was er überhaupt mit seinem Leben anfangen will; dass er kein Bild hat, kein Ideal. Er ist ein Opportunist. Dazu kommt seine Feigheit, sein Unvermögen Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Schau ihn dir einmal an. Sein Leben ist nicht viel mehr als eine Maskerade. Eine Welt der schönen Bilder. Eine Wohnung in Paris, eine Wohnung in Lugano, viele Hotelaufenthalte. Wo ist er zu Hause? Das ständige Herumreisen?  Lediglich zweck dazu, um die Leere in seinem Innern zu verdrängen. Seine teuren Anzüge, sein teures Auto. Alles bloss Accessoires eine Kaste, die sich "globale Elite" nennt
- Den letzten Teil verstehe ich jetzt nicht mehr so ganz
- Entschuldige, ich habe mich wohl in Rage geredet. Was ich meine ist eigentlich, dass man im Leben gewisse Entscheidungen zu treffen hat und zu ihnen stehen muss, auch wenn es schmerzhaft ist. Es fällt mir nicht leicht, aber ich werde dieses Land in nächster Zeit verlassen.
- Was?! Weshalb denn das? Hier ist es doch schön...
- Schon, aber dieses Land geht langsam aber sicher vor die Hunde. Es wird von einem rechten Geisteskranken regiert, der ideologisch in die dunkelste Zeit des letzten Jahrhunderts passt. So genannte Bürgerwehren oder sprich ideologisch getrimmte Schlägertrupps ziehen durch die Dörfer und verprügeln Andersdenkende. Und die Bevölkerung schaut apathisch zu bzw. sie schaut eben weg und verdränt, dass die Verantwortung für das Land bei ihr selbst liegt...oder wenn man es auf deinen Vater ummünzen will, dann, dass jeder selbst für sein Leben verantowrtlich ist.

Laszlos Monolog machte mich nachdenklich und ich verstummte eine Weile lang. Er entschuldigte sich und meinte, dass er in letzter Zeit ein wenig aufgebracht sei und sich hier nicht mehr Wohl fühle, denn er merke, wie die Stimmung im Lande mehr und mehr gegen einen wie ihn koppe. Ich verstehe das und es ist irgendwie schon krass, wie wenig die Menschen aus der Geschichte zu lernen scheinen...

Mittwoch, 4. August 2010

Dreissigster Eintrag

Die Reise nach Györ verlief ohne irgendwelche Probleme. Ich nahm den Nachtzug und kam gegen 9 Uhr morgens an. Ich schlief im Nachzug ziemlich bald ein, nachdem ich mir im Speisewagen noch ein Glas Rotwein gegönnt hatte. Und ich schlief irgendwie sogar ziemlich gut, was verwunderlich war ob diesen eher wenig luxuriösen Pritschen in meinem Schlafabteil. Einzig einmal wurde ich wach, nachdem sich irgendein Typ versehentlich in mein Abteil verirrt hatte. Und wenig später stritten irgendwelche Leute in einer fremden Sprache draussen auf dem Gang.

Jedenfalls traf ich dann gegen 9 Uhr morgens relativ ausgeschlafen ohne Verspätung in Györ ein. Eigentlich wollte Onkel Laszlo mich dort abholen kommen, nur hatte er etwas Verspätung, weil er mit seinem Verleger noch ein kurzfristig abgemachtes Treffen hatte. Onkel Laszlo ist ja Schriftsteller und dort gehört das irgendwie dazu. Er mag die Verleger zwar nicht, aber muss trotzdem Freundschaften mit ihnen pflegen. Ich könnte sowas echt nicht...

Da Laszlo erst so gegen Mittag da sein konnte und ich Zeit totschlagen wollte, ging ich mir ein wenig die Füsse vertreten. Zuvor versorgte ich allerdings noch meinen echtledernen Reisekoffer, den ich mir damals mit dem Geld gekauft habe, das ich während meines Ferienjobs im Kino verdient hatte. Ich habe Filme ja sehr gerne, also das heisst, die Filme, welche in den Art Cinemas gezeigt werden. Damals musste ich die Eintrittskarten entwerten und den Vorführsaal nach der Vorstellung reinigen. Die Bezahlung war zwar nicht wahnsinnig toll, aber dafür konnte ich mir die Filme jeweils gratis ansehen.

Naja, jedenfalls lief ich danach ein wenig durch die Strassen Györs, ohne jedoch etwas zu sehen, das mir irgendwie gefallen hätte. Die Stadt ist, um sie ohne politische Korrektheit zu beschreiben, hässlich. Und auch die Menschen sind irgendwie komisch. Kaum einer lacht einmal; stattdessen gehen sie alle emotionslos und starren Blickes ihres Weges und beachten einander kaum.

Nach einer Weile hatte ich genug gesehen und ging wieder zurück zum Bahnhof, wo ich mich in eine stickige Wartehalle setzte und wartete. Dann irgendwann kurz vor Mittag trat Laszlo in den Warteraum. Er sah gut aus in seinem dunkelgrauen Veston, dem weissen Hemd und der weinroten Leinenhose. Sein langes, nach hinten gekämmtes Haar ist einiges grauer geworden, seitdem ich ihn das letzte Mal gesehen habe, aber es steht ihm ganz gut, lässt ihn irgendwie reifer und halt so wie ein typischer Schriftsteller wirken.

Es war ein freudiges Wiedersehen. Es war wohl schon gut drei Jahre her, seitdem ich ihn zu Letzt gesehen hatte, aber es fühlte sich überhaupt nicht so an. Es war eher, wie vor einem Monat oder so. Und trotzdem freute ich mich. Wir umarmten uns, klopften uns gegenseitig auf die Schultern und scherzten

- Ich weiss, das sagen alte Männer immer, aber Jérôme, du bist wirklich gross und erwachsen geworden, seitdem ich dich das letzte Mal sah
- Danke, du bist aber auch reifer geworden
- Ah ich sehe, mutig geworden bist du auch

Er lachte und gab mir einen Klaps auf den Hinterkopf.

- Nein, nur Spass. Du hältst dich gut, Onkel. Steht dir gut der Veston und die Hose
- Jaja musstest du ja fast sagen, willst ja schliesslich ein Bett worin du schlafen kannst. Komm, gib mir deinen Koffer und lass uns gehen.

Wir stiegen in Onkel Laszlos alten Peugeot und fuhren los. Zu Beginn auf einer gut in Stand gehaltenen Autobahn, die immer schlechter zu werden schien, umso weiter wir uns von der Stadt entfernten. Je näher wir Balatonberény kamen, desto mehr Schlaglöcher gab es. Wir redeten nicht viel während der Fahrt, aber es war ok. Ich mag Laszlos Ruhe, die er ausströmt. Er wirkt so abgeklärt und erfahren.

Am frühen Nachmittag kamen wir in Balatonberény an. Laszlo wohnt immer noch in dem kleinen Häuschen, das er sich nach dem Tod seiner Frau gekauft hatte. Er lebt dort lediglich mit seiner Hündin Belle und seinen Büchern.

Obschon das Häuschen so klein ist und vermutlich auch genau deshalb, hab ich es sehr gerne. Betritt man das Haus, so gelangt man direkt ins Wohn- und Arbeitszimmer. Laszlo hat die Wände in einem warmen Gelbton gestrichen und die stützenden Holzbalken mit einer dunkelbraunen Beize behandelt. Wenn man zur Türe hereintritt blickt man auf ein grösseres Chesterfield-Sofa, neben dem ein gemütliches Sofa steht. Davor befindet sich ein Clubtisch, auf dem viele verschiedene Zeitungen herumliegen. Auf der rechten Wandseite, gegenüber des Chesterfields, befindet sich ein Flachbildfernseher, der aber nicht oft benutzt wird, so wie ich Laszlo kenne. Links von der Haustüre befindet sich eine Regalfront, die prall gefüllt mit allerlei Büchern ist. Rechtwinklig dazu befindet sich Laszlos grosser Arbeitstisch, von dem aus man durch die grosse Fensterfront hinaus direkt auf den Plattensee hinuntersehen kann. Hinter der Sitzgruppe bzw. hinter dem Sessel befindet sich Laszlos Schlafzimmerchen, von dem aus man das ebenfalls winzige Badezimmer betritt. In die halboffene Küche gelangt man man durchs Wohnzimmer. Die Küche befindet sich gleich neben Laszlos Schreibtisch. Darin befindet sich ausser der Küchenkombination bloss noch ein kleines Tischchen, das für gerade einmal zwei Personen Platz bietet, aber für ihn alleine wiederum völlig ausreichend ist.

- Fühl dich wie zu Hause. Liest du in der Zwischenzeit lieber als früher? Schnapp dir ein Buch wenn du möchtest. Wenn es dir gefällt und du willst, kannst du es auch gerne mit nach Hause nehmen. Du kannst übrigens in meinem Bett schlafen, ich werde mich mit dem Sofa begnügen und auf Belle aufpassen. Sie ist ja in der Zwischenzeit schon etwas älter geworden und auch nicht mehr die beste Wachhündin
- Ach komm, ich schlaf schon auf dem Sofa, ist kein Problem
- Sei nicht albern! Du bist mein Gast!

Die Sonne war besonders heiss und drückend an diesem Tag, oder vielleicht war es auch die Sonne in Ungarn. Jedenfalls machte uns das Wetter müde. Wir legten uns deshalb ein wenig hin und machten ein Nickerchen. Am frühen Abend begannen wir dann gemeinsam zu kochen. Es gab ein saftiges Paprikagulasch. Mit meiner Mutter koche ich eigentlich nie, hab irgendwie ständig ein komisches Gefühl dabei, aber mit Laszlo machte es Spass. Als es langsam eindunkelte assen wir draussen im Garten, tranken ein Glas Rotwein und sprachen ein wenig über meine Ferien, die Schule und Laszlos Lesung in Györ. Danach gingen wir schlafen, denn der Rotwein zeigte wieder einmal seine schlafbringende Wirkung.

Sonntag, 1. August 2010

Neunundzwanzigster Eintrag

Wir waren also wieder zu Hause. Ich war wieder zu Hause. Alleine. Was die beiden andern taten, wusste ich nicht genau. Ich brauchte wieder einmal etwas Raum für mich selbst. Und doch war es irgendwie merkwürdig so alleine in diesem grossen Haus zu sein; meine Mutter ist ja immer noch in den USA.

Den Morgen habe ich jedenfalls verschlafen, dann erst einmal ausgiebig geduscht und danach ging ich einkaufen, da praktisch nichts zu Hause im Kühlschrank war. Beim Einkaufen fiel mir auf, wie hier bei uns alles sauber und geordnet ist und eigentlich sollten die Menschen glücklich sein, aber sie sind es trotzdem nicht. Keiner lebt wirklich. Aber vielleicht sieht die Welt auch bloss durch meine Augen betrachten so aus...

Ich habe dann jedenfalls noch kurz mit Onkel Laszlo telefoniert und mit ihm über die nächsten paar Tage gesprochen; ich werde zu ihm nach Ungarn reisen. Morgen reise ich mit dem Zug ab nach Györ. Er wird mich dann dort abholen, da er gerade wegen einer Lesung dort ist.

Daraufhin las ich ein wenig. Als ich nach Hause kam, lag auf meinem Schreibtisch ein Buch mit einer Notiz. "Lieber Jérôme. Ich weiss, dass das Leben und das Erwachsenwerden nicht immer ganz einfach ist. Aber irgendwann kommt der Punkt, wo man klarer sieht, wer man ist und was man will. Dieses Buch half mir damals, die Dinge ein wenig lockerer zu sehen und vor allem zu realisieren, dass man nicht alleine mit seinem Schicksal ist. Kopf hoch! Hampi". Das Buch heisst "Der Fänger im Roggen". Ich weiss nicht, es ist ja ganz nett von ihm und so, aber was will er mir mit all dem sagen? Mich ein weiteres Mal belehren? In dem Buch geht es um irgendeinen Jungen, der es in der Schule verbockt hat und rausgeflogen ist. Ich las nicht mehr weiter; Hampi wollte mir damit wohl irgendwie Angst machen oder so. Mir zeigen, was passieren würde, wenn ich mich künftig nicht mehr anstrengen würde.

Trotzdem liess mich das alles nicht so recht los. Was will ich? Was soll aus mir werden? Ich ging runter zur Seepromenade und wollte dort spazierend ein wenig darüber nachdenken. Nur war die Seepromenade an diesem Abend nicht wirklich ein Ort der Ruhe, denn heute war, wie ich völlig vergessen hatte, unser Nationalfeiertag. Es kam mir absurd vor und es schien mir so, als würde mich überhaupt nichts mit der dumpfen, feiernden Masse verbinden, die dort unten am See ihre Raketen gen Himmel schossen.

Kurzerhand machte ich kehrt und ging zurück nach Hause. Da ich eigentlich nichts Besseres tun konnte, begann ich meinen Koffer für die morgige Reise zu packen. Richtig konzentriert war ich aber nicht und ich bin mir sicher, dass ich die Hälfte einzupacken vergessen habe. Stattdessen fragte ich mich beständig, was ich eigentlich will und was aus mir werden soll. Ach dieses "was soll aus mir werden?" - sie ist eine selten dämliche Frage, denn eigentlich geht's bei ihr ja immer nur um's Geld. Klar will ich ein wenig Geld, aber es ist nicht alles. Was bringt einem schon die Karriere, wenn man dabei nicht lebt?! Was ich will? Ich glaube, es ist leben. Ich will leben. Ich will das tun, was ich will. Das tun, was, wenn ich auf mein Herz höre, richtig ist. Vor allem will lieben. Ich meine, worin besteht der Sinn von all dem hier? Ich kenne ihn nicht, aber zu lieben scheint mir Sinn genug zu sein. Intensiv zu leben und zu lieben. Gefühle voll auszuleben, Höhen und Tiefen. Nichts ist schlimmer als das Leben einem langweiligen Alltagstrott zu opfern!

Den restlichen Abend brachte ich damit zu, mich durch Alines' Facebook-Profil zu klicken. Foto für Foto. Und insgeheim hoffte ich stets, dass sie plötzlich und unvermittelt im MSN auftauchen würde oder mir eine Nachricht über Facebook zukommen lassen würde, doch das tat sie nicht. Unser Kontakt ist seit dieser Sache beim Abschlussball irgendwie eingeschlafen. Zwar schrieb sie mir einige Male im MSN, aber ich ging nicht darauf ein. Ich war wütend, weil ihr Freund mich gedemütigt hatte. Dabei wäre das doch scheissegal gewesen! Scheiss auf ihn! Ich bin ein Idiot. Schon wieder gab ich eine Sache auf, ohne es überhaupt richtig versucht zu haben.

Ja, ich gab auf, ohne es überhaupt versucht zu haben... Dabei schien sie mir doch so perfekt zu sein. Mir wurde in diesem Moment klar, dass ich wohl verliebt bin und eine seltsame Panik ergriff und steuerte mich. Ich tat nun das, was mir die einzige verbleibende Möglichkeit zu sein schien; ich schrieb ihr eine Facebook-Nachricht und erzählte ihr alles. Dass ich damals ein anderes Tram genommen hatte, das gar nicht meines war und dass ich dies nur deshalb tat um bei ihr sein zu können, nur um sie länger sehen zu können, ihren Duft riechen zu können. Ich erzählte ihr davon, wie ich im Facebook nach ihr gesucht habe und dass ich extra ihretwegen zum Ball kam. Dass sie mir seit unserem Date auf dem Lindenhof nicht mehr aus dem Kopf geht...nein, dass sie mir von dem Tag an, an dem ich sie sah, nicht mehr aus dem Kopf geht.

Es ist verdammt riskant und ich habe mit diesem Schritt gewissermassen alles auf eine Karte gesetzt. Aber was sollte ich sonst tun? Mein Verstand ist ausser Kraft gesetzt und in meinem Herzen herrscht Sturm und Drang...

Samstag, 31. Juli 2010

Achtundzwanzigster Eintrag

Nachdem uns klar geworden ist, dass wir hier auf dem Trockenen sitzen und kein weiteres Geld mehr abheben werden können, sassen wir uns zum Hafenbecken runter und besprachen das weitere Vorgehen. Mick und Pedro riefen ihren Eltern an und diese boten uns an, weiteres Geld zu überweisen. Unsere Euphorie über dieses Angebot hielt allerdings nicht lange, als wir erfuhren, dass es gut zwei Tage dauern wird, bis das Geld hier ankommen würde. Das war zu lange. Wir wollten nach Hause. Insbesondere Mick schien das alles langsam aber sicher recht auf die Nieren zu gehen. So beschlossen wir aufzubrechen.
Es kam dann in etwa so, wie wir es uns gedacht hatten; von den 300 Euro, die wir noch hatten, mussten wir knapp 200 für den Aufenthalt auf dem Campingplatz hinblättern. Blieben also noch etwas mehr als 100 übrig. Ob das reichen würde? Keine Ahnung! Wir mussten es einfach irgendwie bis nach Chiasso schaffen. Dort würden wir dann an einem Bankomaten wieder Geld abheben und auftanken können.

Wir beschlossen deshalb, möglichst benzinsparend zu fahren und möglichst viel Ballast abzuwerfen. Auf einem leeren Parkfeld unweit der Hauptstrasse nach Porec entsorgten wir Pfannen, Geschirr, leere Flaschen und auch die inzwischen leere Propangasflache, die sich unter dem Herd befand. Ob das was brachte, wussten wir nicht. Aber immerhin gab es uns ein gutes Gefühl, das Gefühl alles nur Mögliche versucht zu haben.

Dann fuhren wir also nach Hause. Mick und Pedro abwechselnd am Steuer und ich hinten. Ich bin der Einzige von uns, der bisher noch keinen Führerschein besitzt. So döste ich noch ein wenig vor mich hin - so gut das halt ging auf diesen holprigen Strassen.
Auf der Höhe von Triest mussten wir einen ersten Halt einlegen, denn das Benzin ging zum ersten Mal zu Neige. Auf einer Autobahnraststätte kauften wir uns je zwei Bananen, ein Stück Brot und Wasser; das musste für heute reichen. Mit dem verbliebenen Geld tankten wir so viel es nur ging. Immerhin hatten wir nun einen fast ganz vollen Tank und es stellte sich nun bloss noch die grosse Frage, ob das reichen würde. Bevor wir wieder losfuhren, rauchten wir noch eine Zigarette. Wir sassen da auf dem Boden vor unserem Camper und rauchten schweigend vor uns hin. Die Stimmung war deswegen aber keineswegs bedrückend, sondern viel eher war da eine merkwürdige Verbundenheit zwischen uns, wie mir schien. Es war eine leichte Anspannung gepaart mit gesunder Aufregung. Ist dies in etwa das, was man als ein Abenteuer bezeichnet? Womöglich.

Wir stiegen wieder in unseren Camper und fuhren abermals los. Mal ging es flott voran und mal, meist vor Mautstellen, hatte uns der Stau fest im Griff. Und dazwischen folgten immer wieder misstrauische Blicke auf die Benzinanzeige und die Entfernungsangaben auf den Autobahnschildern. Irgendwann kam Mick auf die Idee, dieses dämliche Lied "Gasolina" in den IPod zu schmeissen und dazu "wir haben kein Benzin mehr, ja wir haben bald kein Benzin mehr" zu singen. Nun, das nennt man dann wohl Galgenhumor.
Kurz vor Mailand begann sich die Sonne langsam zu senken. Es war in der Zwischenzeit halb neun. Wir fuhren und fuhren, vorbei an Mailands hässlichem Industriegürtel, vorbei an Mailands hässlicher Vorstadt und vorbei an Mailands hässlicher Innenstadt. Irgendwann hatten wir Mailand hinter uns gelassen und atmeten zum ersten Mal ein wenig auf, als wir feststellten, dass es nur noch rund 40 Kilometer nach Chiasso sind. Aber nur schon wenige Kilometer später fiel die Benzinanzeige auf 0 und unsere Hoffnung, dass wir es trotzdem schaffen würden, wurde nicht wesentlich grösser, als dann auch noch das Benzinkontrolllämpchen zu leuchten begann.

Pedro holte daraufhin die Betriebsanleitung des Campers hervor und begann wie wild darin herumzublättern.

"Noch 21 Kilometer bis Chiasso, oder?"
"---"
"Mick verdammt, wie viel Kilometer noch bis Chiasso? Was stand auf dieser Tafel vorhin?"
"Ja ich glaube es waren 21 Kilometer"
"Es könnte reichen. Die meinen hier, dass die Reserve für 30 Kilometer reichen würde. Geh runter vom Gas Mick, fahr nur 80. Nicht 100. Jeder einzelne scheiss Tropfen Sprit zählt jetzt!"
"Ok..."

Wir zählten die Kilometer und es schien fast so, als würden die Kilometer sich von Minute zu Minute mehr und mehr strecken.

Noch 17 Km...
noch 13 Km...
noch 10 Km...
noch 7 Km...
noch 3 Km...

Und dann plötzlich tauchte der Zoll auf. Die Luft in unserem Bus schien elektrisch geladen zu sein, aber doch sagte niemand ein Schweigenswort. Aber dann, als der Zöllner uns durchgewunken hatte und wir gleich nach dem Zoll eine Tankstelle vorfanden, ging ein riesen Aufschrei durch den Camper - wir hatten es geschafft! Wir hatten es praktisch mit dem letzten Tropfen Benzin geschafft!

Daraufhin tankten wir unseren Camper voll und fuhren weiter in Richtung Gotthard in die tiefe Nacht hinein. Dann um 3 Uhr morgens kamen wir schliesslich endlich zu Hause an und gingen alle schlafen - es war ein tiefer und erholsamer Schlaf.

Freitag, 30. Juli 2010

Siebenundzwanzigster Eintrag

Eigentlich wollten wir ja bleiben und noch weiter gegen Süden fahren, aber irgendwie kam alles ein wenig anders und wir machen uns in Kürze auf, um wieder zurück in die Schweiz zu fahren.

Die ganze Scheisse kam ins Rollen, als wir gestern Abend wieder nach Rovinj ins Städtchen zogen. Wir besuchten Bar nach Bar und tranken Glas nach Glas. Uns war irgendwie danach, da der Tag recht langweilig war. Wir hatten alle schon mindestens 6 Bier und einige Shots intus, als uns aus einer Seitengasse heraus ein Typ anquatschte: «He you guys! Sexy show! Sexy show!» Wir verstanden nicht recht, was der Typ wollte. Jener war nicht gerade sonderlich gross und eher ein Schmächtling. Pedro, der gut einen halben Kopf grösser war, ging auf ihn zu und fragte ihn «What sexy show? You mean we are sexy?» Sein gegenüber antwortete in schlechtem Englisch «No. Girls! Sexy girls! Sexy Show! Come with me and look!» er zeigte mit der einen Hand in Richtung der schmalen Seitengasse und deutete uns mit der anderen Hand, ihm zu folgen. Pedro folgte ihm sofort. Ich und Mick zögerten jedoch. Wir pfiffen Pedro zurück und besprachen das weitere Vorgehen. «Der Typ ist doch irgendwie komisch. Wollen wir dem wirklich folgen?» fragte ich, woraufhin Pedro wie aus der Pistole geschossen antwortete «Ja was soll denn schon dabei sein? Wir sind zu dritt und der Zwerg ist allein!» «Hmm» «Ach komm schon! Sei nicht immer so ein Feigling! Ist doch mal ein Erlebnis!» Mick stand daneben und gab einen kurzen, dummen Lacher von sich. Das ärgerte mich irgendwie. Ich wollte nicht als Hasenfuss dastehen und willigte deshalb ein. Währenddessen sprach der obskure Typ irgendetwas von einem «free drink» und deutete uns abermals ihm zu folgen.

Schlussendlich folgten wir ihm. Er lotste uns in eine Sackgasse in der bereits eine handvoll anderer Männer standen und meinte «here wait». Alle standen vor einem bulligen Türsteher mit Stiernacken und hinter diesem wiederum befand sich eine Türe, die er jeweils nach sorgfältiger Musterung eines potentiellen Gastes öffnete. Nach einer Weile kamen schliesslich auch wir an die Reihe und wurden ebenfalls gemustert: «How old?» «18» «18» «19» «Ok, have fun!». Die Tür öffnete sich uns und vor uns erschloss sich ein dunkler Korridor, an dessen Ende sich eine alte Holztreppe befand. Wir tappten hinein und mit uns der merkwürdige Zwergenwuchs. Am oberen Ende jener Holztreppe gelangten wir an so etwas wie ein behelfsmässig gezimmertes Kassenhäuschen. Eine eindeutig zu fest geschminkte Mittvierzigerin erklärte uns, dass wir jeweils 30 Euro für «the show» bezahlen müssten und dass wir aber dazu einen «free drink» erhalten würden. Das war verdammt viel Geld, aber einen Rückzieher konnten wir jetzt irgendwie nicht mehr machen. Also bezahlten wir. Gleich nachdem wir bezahlt hatten, drückte die Puffmutter oder was auch immer sie darstellte, dem Kobold eine Zwanzigernote in die Hand.

Uns war das alles irgendwie überhaupt nicht geheuer. Nachdem wir am Kassenhäuschen vorbei waren, erschloss sich vor uns ein amphitheaterartiger Raum in dessen Mitte sich eine gut beleuchtete Bühne befand und um die herum jeweils dunkle Clubtische platziert waren, an welchen jeweils dunkle und bedrohlich aussehende Gestalten sassen. Ich merkte, dass sogar Pedro sich nicht mehr wohl zu fühlen schien, aber keiner von uns sprach es offen aus. Wir versuchten stattdessen cool zu bleiben und steuerten möglichst routiniert einen der Tische an.

Nach einer kurzen Weile begann unten auf der Bühne so etwas wie eine Show. Leicht bekleidete «Girls» betraten selbige. Schon nach kurzer Zeit liessen sie ihre Hüllen fallen und führten irgendeine Akrobatiknummer vor. Ich glaube die Akrobatik war den meisten im Raum egal. Wir jedenfalls sprachen kaum miteinander und waren jeweils in unsere eigenen Gedanken vertieft. Die Show endete letztlich mit einem Feuerwerksvulkan, der nicht so recht abbrennen wollte und nach kurzer Zeit wieder erlosch. Es folgte verhaltener Applaus und vereinzelte Pfiffe. Danach verschwanden die Mädchen wieder hinter die Bühne und der DJ spielte weitere schlechte Musik.

Wir sassen dann da in unseren Sesseln und starrten vor uns hin. Irgendwann unterbrach Pedro die Stille
«Ich hole uns etwas zu trinken, ok?»
«Ok»
«Ok»

Pedro tauchte im Dunkel des Raumes ab und war verschwunden. Ich fragte Mick, was er von diesem Ort hier haltet. Jener meinte
«Hmm, ich weiss nicht so recht» und schickte sein typisches Idiotenlachen nach. Ich stimmte ihm zu «Ja, ich weiss auch nicht so recht». Danach kehrte wieder Stille ein und wir beide beobachteten die leichten Mädchen, die ihm Raum so umherstanden, vereinzelt zu den Tischen gingen und mit den Gästen über irgendetwas zu verhandeln schienen. Die Mädchem kamen ihrem Aussehen nach von überall her. Afrika, Kroatien, Asien, Russland, Skandinavien. Alles bunt durchmischt. Sie waren allesamt äusserst schön und diese Schönheit war irgendwie angsteinflössend.

Derweil kam Pedro wieder mit drei Drinks in den Händen zurück. Er knallte diese wütend auf den Clubtisch, liess sich in seinen Sessel fallen und schnaubte
«Wisst ihr wieviel die für einen Wodka-Redbull verlangt habe? 20 Euro pro Stück! Die spinnen hier ja komplett»
Mick und ich nahmen die Sache zur Kenntnis, aber verspürten keine grosse Lust sie weiter zu kommentieren. Wie schon zuvor, sassen wir so da, schwiegen und beobachteten das Geschehen. Wobei eigentlich nicht viel geschah. Mädchen traten an den Tisch der Gäste und verhandelten über irgendwas. Einige Mädchen tanzten sodann auf dem Tisch. Andere wiederum verschwanden mit einem Gast an der Hand in einen anderen Raum, der sich hinter einer dunklen Türe befand.

Irgendwann kam schliesslich auch an unseren Tisch ein Mädchen. Sie war blond, zierlich gebaut und sah ziemlich jung aus. Ich glaube, dass sie kaum wesentlich älter als wir war. Das schien auch das Mädchen bemerkt zu haben und es schien sie irgendwie zu verunsichern, denn es wirkte so, als würde sie nicht uns anschauen, sondern durch uns hindurch. Ein kurzes und scheues Lächeln huschte über ihre Lippen. Doch gleich darauf wechselte sie ihre Mimik und Körperhaltung und begann mit uns eine nichtige Konversation. Es schien fast so, als würde sie eine Rolle oder so spielen. Sie heisse Anouschka und sei aus der Ukraine.

Meine äusserst naive und dumme Frage nach dem Grund für ihren Aufenthalt in Kroatien warf sie jedoch wieder aus dieser Rolle. Ihre Körperhaltung veränderte sich abermals und sie schien wieder das junge und schüchterne Mädchen von vorhin zu sein. Ungläubig schaute sie mich an und antwortete nach einer Weile «Holidays». Meine Frage tat mir Leid. Kurz darauf fand Anouschka wieder in ihre Rolle zurück und erklärte uns mit lasziver Stimme, dass sie uns möge und deshalb für uns tanzen werde.

Sie kletterte daraufhin auf unser Clubtischchen und begann ihren Körper zum Rhythmus der schlechten Hintergrundmusik zu bewegen. Sie entkleidete sich langsam und es war schön, ihr dabei zuzusehen. Dass ihr ganzer Körper vor Aufregung fürchterlich zitterte, änderte daran wenig, es machte sie bloss irgendwie furchtbar menschlich. Nachdem Anouschka ihren Tanz beendet hatte, stieg sie vom Tischchen herunter und zog sich ihre knapp bemessenen Kleidungsstücke wieder an.

Anouschka lächelte abermals schüchtern und meinte dann, wir sollten ihr jetzt 100 Euro für die Nummer zahlen. Pedro stiess dies jedoch ganz übel auf und herrschte sie an «Why should we pay? We didn't ask you to dance for us!» Anouschka versuchte sich zu verteidigen «Sure you pay. Everyone pays. It's normal». Bei Pedro fruchtete das jedoch gar nicht und er giftelte weiter «Screw you! We don't pay a cent. Fuck off!»

Es schien so, als würde Pedros Unnachgibigkeit Früchte tragen. Anouschka lief jedenfalls davon, nachdem sie Pedro den Mittelfinger entgegenstreckte und ihm «Fuck you!» an den Kopf warf. Nun, wie gesagt, es schien so, als wäre Pedro mit seiner Taktik erfolgreich gewesen. Doch der Schein trügte. Anouschka kam nach diesem kurzen Intermezzo wieder zurück und brachte drei Bulldozer im Schlepptau mit sich. Die drei Typen platzierten sich hinter uns und packten mit ihrem Metzgerhänden unsere Schultern. Der Grimmigste unter ihnen nahm sich Pedro vor und brummte in sein Ohr
«You are nice guys and pay now this nice girl 100 Euro. Each of you!»
Pedro liess sich jedoch nicht einschüchtern, starrte den Bullen an und antwortete gehässig
«No! We won't pay any cent! We didn't ask her to dance and so that's not our business!»
Pedros Antwort kam nicht gut an. Der Zerstörer packte kurzerhand Pedros Kopf und schmetterte ihn gegen die Tischkante. Pedro schrie auf und presste schützend die Hände vor sein Gesicht. Zwischen seinen Fingern quoll Blut hervor. Abermals richtete der Metzger das Wort an Pedro
«Will you pay now?»
Anouschka, die alles ebenfalls mitangesehen hatte, stand daneben und verbarg schluchzend ihr Gesicht in ihren Händen.

Pedro murmelte indes «Yes, Yes, Yes, but stop it!» zwischen seinen verbluteten Händen hervor und griff nach seiner Brieftasche. Wir taten es ihm gleich, da wir wirklich keine Lust auf eine ähnliche Abreibung hatten. Daraufhin meinte der Kastenschrank «Good guys, good guys» und warf Pedro ein bereits gebrauchtes Taschentuch zu und lachte «for your nose».

Wir verliessen diesen Ort, so schnell es nur ging. Kaum waren wir draussen auf der Strasse, trafen wir jedoch wieder auf den Kobold, der uns in diesen Schuppen gelockt hatte. In diesem Moment rastete Pedro aus und rannte auf den Zwergenwuchs zu. Ohne weitere Worte packte er diesen und drückte ihn gegen eine Wand. Dieser reagierte jedoch blitzschnell und Pedro sah sich auf einmal mit einem Stellmesser konfrontiert, dass der Zwerg gegen seine Halsschlagader drückte. Pedro liess sofort von ihm ab und rannte davon - wir ihm hinterher. Das alles war ziemlich verstörend und wir haben uns geschworen, nie mehr einen solchen Schuppen aufzusuchen...

Aber... es damit hatte es sich noch nicht. Heute morgen, als wir unsere Brieftaschen wieder mit neuem Geld auffüllen wollten, erlebten wir eine weitere Überraschung: Wir konnten so gut wie kein Geld mehr abheben. Der Bankomat frotzelte etwas von aufgebrauchtem Kreditlimit. Nur konnte das gar nicht sein, da wir alle noch genug Geld auf unseren Konti hatten! Deshalb ruften wir die Bank an und erkundigten uns nach dem Grund für diesen Bullshit. Nun, im Ausland habe man ein tieferes Bezugslimit und wir könnten es leider nicht telefonisch erhöhen. Wir müssten hierzu bei der Bank vorbeikommen. Dummes Arschloch! Wie soll das gehen, wenn wir hier festsitzen?!

Das war der Moment des kompletten Zusammenbruchs. Mick rastete aus - etwas, das ich noch nie erlebt hatte. Er trat wuchtig gegen eine öffentliche Mülltonne, sodass diese unter der Wirkung von Micks Tritt über den Platz sauste und seinen Inhalt quer über selbigem verstreute. Verdutzte Touristen, starrten uns im Vorbeigehend gleichermassen fragend, wie entsetzt an. Mick schrie herum «Das kann doch nicht wahr sein! Verdammte scheisse» und sackte an der Mauer neben dem Bankomaten zusammen. Weinerlich jammerte er «ich will nach Hause. Ständig widerfährt uns irgendwelche Scheisse». Ich versuchte Mick zu beruhigen und erklärte ihm, dass wir nach Hause fahren werden. Pedro nickte lautlos. Die Frage ist nun bloss, wie wir nach Hause kommen können. Wir haben all unser Geld zusammengekratzt und haben jetzt noch knapp 300 Euro. Dabei müssen wir noch gut 200 Euro für den Campingplatz bezahlen und mit dem Rest müssen wir es irgendwie noch schaffen, genügend Benzin für die Heimreise zu beziehen...

Donnerstag, 29. Juli 2010

Sechsundzwanzigster Eintrag

Den gestrigen Tag verbrachten wir weitgehend unaufgeregt unten am Strand. Abwechselnd lasen oder dösten wir und gingen ab und zu zur Abkühlung eine Weile ins Meer schwimmen. Das Wetter ist schon seit Tagen gut; das heisst es ist heiss und tropisch. Irgendwann, ich war schon wieder weggedöst, klingelte unvermittelt mein Handy. Noch ziemlich benommen griff ich danach und nahm ab, ohne vorher nachzusehen, wer überhaupt dran war. Am andern Ende war meine Mutter:
«Hallo mein lieber Freund. Du klingst ziemlich verschlafen. Was ist denn mit dir los? Ist der Nachhilfeunterricht so anstrengend?»
«Nun ja, eigentlich ja nicht, das heisst, ich weiss es nicht»
«Jérôme, weisst du eigentlich, dass ich mir verdammte Sorgen um dich mache? Wo in aller Welt steckst du bloss?! Zu Hause auf jeden Fall nicht und den Nachhilfeunterricht besuchst du offenbar auch schon seit Tagen nicht mehr»
«Hmm, ja das ist so eine Geschichte. Ich bin gerade in Kroatien zusammen mit Pedro und Mick. Wir machen hier ein wenig Ferien. Entspannen und so.»
« --- »
«Hallo?»
«Ich bin tief enttäuscht von dir. Ich habe für dich extra einen Nachhilfekurs organisiert und dann das.»
«Jaaa, aber der eine Nachhilfelehrer meinte, ich solle es besser sein lassen, wenn mir die Motivation fehlt»
«Ich weiss, das hat er mir auch erzählt. Aber weshalb fehlt dir die Motivation? Versteh' doch bitte endlich, dass du es für dich tust. Es ist dein Leben und nicht meins»
«So kommt es mir aber manchmal nicht vor»
«Wie meinst du das?»
«Du sagst ständig ich würde es für mich tun. Aber eigentlich ist das, was ich angeblich für mich tun würde, bloss das, was du willst. Du presst mich ständig in das Korsett deiner Vorstellungen und lässt mich gar nicht leben. Ich will meinen Weg gehen, verstehst du? Ich will das werden, was ich will und nicht das, was du willst»
«Das ist doch nicht wahr. Ich habe dir stets grosse Freiheiten gegeben. Du konntest tun, was du wolltest und ich habe dich immer unterstützt»
«Ja, materiell vielleicht. Aber zwischenmenschlich? Hast du mir jemals das Gefühl gegeben, dass du das gut findest, was ich tue? Hast du nicht!»
«Das ist unfair, Jérôme!»

Ihre Stimme wurde wieder weinerlich und überschlug sich. Wie ich solche Situationen hasse.

«Es tut mir Leid. Es war nicht so gemeint»
«Jérôme, ich möchte, dass du nach Hause kommst bzw. zu jemandem gehst, den ich gut kenne. Ich bin ja noch mehr als eine Woche in den USA und ich mache mir Sorgen um dich. Ich habe das Gefühl, dass du Probleme hast und kurz davor bist, in irgendein Loch zu fallen. Mach mir einen Gefallen und reis zu Onkel
László nach Balatonberény. Ich habe bereits mit ihm gesprochen und er würde sich sehr über deinen Besuch freuen»
«Hmm...ich weiss nicht, ich mag Onkel László ja, aber ich weiss nicht recht. Was soll ich denn dort machen?»
«Dich entspannen und zu dir finden»
«Als ginge das so leicht»
«Jérôme, bitte. Dann tu' es halt für mich...»
«Hmm...ich werd's mir überlegen»
«Ok. Aber überlegs dir nicht zu lange. Onkel László wartet auf deinen Anruf. Und gib mir auch Bescheid»
«Jaja, ist ok. Tschüss»
«Mach's gut, Jérôme. Ich liebe dich»
«Ja...»

Ich weiss echt nicht recht, was ich machen soll. Soll ich gehen oder nicht? Ich glaube, ich lass' es einfach mal auf mich zukommen und warte ab.

Mittwoch, 28. Juli 2010

Fünfundzwanzigster Eintrag

Venedig haben wir nach nur einem Tag den Rücken gekehrt. Zu viel Dreck, zu viel Gestank und zu viel Schein. Mittlerweile befinden wir uns in einem kleinen Städtchen in Kroatien, das Rovinj heisst. Die Überfahrt war dieses Mal problemlos und es gefällt mir gut hier. Wir wohnen auf einem Campingplatz, der unweit des Städtchens liegt. Von unserem Camper aus haben wir einen fantastischen Blick auf die Kirche von Rovinj, die sich auf einem Hügel befindet. Es fast so, als sei das Städtchen um diese Kirche herum gebaut worden, denn sie bildet quasi dessen Zentrum. Die Menschen scheinen hier recht gläubig zu sein. Viele tragen goldene Halskettchen mit eins dieser Kruzifixe drauf; Jugendliche bilden da keine Ausnahme. Irgendwie schön, wenn sie an etwas glauben können. Meine Generation hat dieses Glück nicht. Vielleicht glauben wir ans grosse Geld und eine steile Karriere, aber an einen tieferen Sinn oder einen irgendwie geratenen heiligen Vater? Ich weiss es nicht.

Einen heiligen Vater? Tzzz, eigentlich brauche ich einen solchen gar nicht. Ich brauche bloss ein Mädchen, das mit mir durchs Leben geht. Das bei mir ist und bleibt, in guten und schlechten Zeiten. Es wurde mir einmal mehr klar, als wir gestern durch die nächtlichen Gassen Rovinjs' schlenderten und überall Pärchen begegneten, die Hand in Hand unseren Weg kreuzten. Und der ungewohnte Geruch mediterranen Essens, der noch überall in den Gassen des Städtchens lag, schien meine Sehnsucht nach der Einen, der Reinen, der Meinen nur noch zu verstärken.

Mick und Pedro machten sich später noch auf die Suche nach einem Club, wo man tanzen kann. Ich hingegen hatte nicht gross Lust darauf; ein seltsam süsser Schmerz in Herz- und Magengegend drängte mich dazu, alleine das Meer aufzusuchen und dort den Mond anzustarren und an Aline zu denken.

Montag, 26. Juli 2010

Vierundzwanzigster Eintrag

Am darauffolgenden Morgen wurden wir bereits früh vom Dröhnen der Signalhorne nahegelegener Schiffe geweckt. Zudem roch es im Inneren des Campers schwer nach Fisch, Motorenöl und Cannabis, was uns schon bald dazu veranlasste, nach draussen zu fliehen, was natürlich wiederum völlig idiotisch war, da es draussen genau gleich, wenn nicht sogar noch stärker nach Hafen roch. Wir verliessen den mittlerweile komplett mit Reisecars zugestellten Parkplatz und suchten eine Fährenanlegestelle, um ins Zentrum Venedigs zu kommen.

Nun, es war kein schwieriges Unterfangen die Anlegestelle zu finden - man brauchte lediglich dem Touristenstrom zu folgen. Die Touristen, das sind vorzüglich Übergewichtige Rentner aus dem deutschen Sprachraum, die die italienischsprachige Minderheit auf der Anlegestelle auf Deutsch anzusprechen pflegen und sich darüber empören, dass ebendiese Italiener so schlecht Deutsch sprechen.

Nach etwas mehr als einer Dreiviertelstunde Anstehens konnten auch wir eins dieser Fährboote besteigen. Es schleppte uns einen breiten Kanal entlang und ich glaube, der Kanal hiess sogar richtig sinngemäss canale grande. Links und rechts von uns glitten baufällige Häuserzeilen vorbei, sowie vereinzelte Kirchentürme, Plätze und viele dieser venezianischen Gondelboote. Wir stürzten uns mehr oder weniger ins Ungewisse, da wir uns zuvor eigentlich überhaupt nicht mit Venedig auseinander gesetzt hatten.

Beim Markusplatz stiegen wir aus; es war der einzige Ort, der uns im Entferntesten von irgendwoher etwas sagte. Von dort aus pilgerten wir kreuz und quer durch verwinkelte Gässchen, über schmale Brücken und überquerten kleinere oder grössere von Touristen gesäumte Plätze.

Ich kam für mich selbst schnell zum Schluss, dass ich dieses Venedig nicht mag. Klar, ich wäre hier gerne mit Aline oder einer Freundin, die ich dann vielleicht irgendwann einmal haben werde. Aber eben, dieses Venedig, ich habe es mir anders vorgestellt. Ok, alles, was ich bisher darüber wusste, wusste ich aus alten Schwarzweissfilmen, de ich mir während schlaflosen Nächten auf Arte angesehen habe. Aber es ist so anders. So heruntergekommen, dreckig, künstlich und austauschbar.

Nach mehreren Stunden ziellosen Umherirrens, liessen wir uns am späten Nachmittag erschöpft in einem McDonald's nieder. Es war der einzige Ort weit und breit, der nicht so verflucht teuer war. Wir stopften mehr oder weniger wortlos unsere Mc-Irgendwas-Menüs in uns hinein. Es war in Ordnung. Die relative Ruhe, die an unserem Tisch, nicht aber in der restlichen McDonald's-Filiale herrschte, wurde plötzlich durch eine Mick-typische Aktion unterbrochen; er schüttete sich seine Cola über seine weissen Shorts. Er ärgerte sich. Wobei das dann nicht ein wirkliches Ärgern war, sondern eher so etwas zwischen Ärgern und einer Belustigung über sich selbst. Mick ist lustig, ohne dass er viel dazu tun müsste.

Nachdem er seine Shorts vergeblich zu reinigen versucht hatte, sank er ein wenig in sich zusammen und brummte 'ich mag diesen Ort hier nicht'. Pedro und ich pflichteten ihm bei. 'Aber sonst sind die Ferien bisher ganz geil. Wir haben bisher schon eine Menge erlebt' wendete Pedro ein. Mick gab ihm Recht. Wieder kehrte Stille ein und jeder starrte ein wenig vor sich hin und beobachtete die andern Touristen. 'Eigentlich sollten wir diese Ferien wirklich geniessen. Ich meine, wir sind noch gut ein Jahr zusammen in derselben Klasse und danach werden sich unsere Wege wohl trennen. Keine Ahnung, was dann kommen wird' sagte ich nach einer Weile. Dieser Gedanke geisterte mir schon lange im Kopf umher.

Pedro und Mick schien dieser Gedanke jedoch nicht gross zu beschäftigen. Einzig Mick stimmte leise zu und meinte 'ja, stimmt schon'. Damit hatte sich's aber. Ich fand das ein wenig Schade und hakte nach 'Nein, ich meine es ernst. Denkt doch mal drüber nach'. Wieder Stille. Pedro nahm einen tiefen Schluck aus seinem Colabecher und meinte dann 'Ach Jérôme, du zerbrichst dir in letzter Zeit über alle möglichen Dinge so den Kopf. Lass es doch einfach mal auf dich zukommen. Du kannst ja doch nicht sagen, was dann eventuell irgendwann einmal sein wird. Nimms locker'.

Pedros' Aussage begleitete mich noch lange an diesem Abend. Hm. Das sagt der so leicht. Wie soll das gehen? Man kann doch einen Gedanken nicht einfach unterdrücken?

Sonntag, 25. Juli 2010

Dreiundzwanzigster Eintrag

Zu viel Schlaf kamen wir nach dieser Nacht nicht mehr, denn wir planten am selben Tag noch Venedig zu erreichen. Statt in Venedig anzukommen, landeten wir jedoch um ein Haar im Knast. Das kam so. Als wir den Zoll bei Chiasso passieren wollten, nahmen uns die italienischen Behörden bei Seite. Wundern tat uns das nicht sonderlich, da unsere Karre ja mehr Ähnlichkeit mit einer Müllhalde als mit einem Camper hat.

Dann, auf einem Parkplatz überprüfte ein mürrischer Zolltyp unsere Papiere und forderte uns auf, hinten aufzumachen. Das taten wir auch, aber, nun ja, was jetzt kommen würde, war auch nicht verwunderlich. Der ganze Wagen roch ja noch wie eine Hanfzüchtungsanlage par Excellence, da die Typen, denen der Wagen zuvor gehörte, irgendwelche hirnverbrannte Kiffer waren, die ständig darin ihre Joints rauchten. Der Zöllner herrschte uns auf italienisch, jedoch verstanden wir ausser dem Wort «Droga», das er ständig wiederholte, kein Wort.

Wenig später gesellten sich drei weitere Carabinieri mit einem Drogenhund zu uns. Wir wurden indes in eine triste Baracke neben den Zoll abgeführt. Dort fragte uns ein anderer Zöllner in gebrochenem Deutsch, wo die Drogen seien. Er nuschelte dies hinter seinem nietzscheartigen Wallrossbart hervor und wäre die Situation nicht so verschissen gewesen, hätte der Typ wohl fast schon etwas Komisches an sich gehabt. In jenem Moment war uns jedoch überhaupt nicht zum Lachen, da wir nicht wussten, ob die Hippies irgendwo sonst noch Gras versteckt hatten. Ein Büschel hatten wir ja gefunden und zum Glück verraucht, aber eben, wir hatten keine Ahnung, ob sich da sonst irgendwo noch etwas finden würde.

Wir versuchten indes dem Wallrossbart zu erklären, dass der Marihuanageruch nicht wegen uns, sondern wegen der Vorbesitzer sei. Dieses dämliche Wallrossbartarschloch zeigte sich jedoch unbeeindruckt und liess uns durchsuchen. Gänzlich. Wir mussten uns ausziehen und mehr Details möchte ich an dieser Stelle nicht verraten. Aber nur soviel: Wir wurden wohl noch nie derartig gedemütigt, wie von diesen verdammten Zöllnerhurensöhnen. Dann, nach dieser grossartigen Demütigung, durften wir noch eine halbe Stunde in einem engen, nur mit einigen Plastikstühlen besetzten Korridor warten und wurden schliesslich ohne weitere Worte aufgefordert, zu gehen und weiter zu fahren.

Nach einigen Stunden Autofahrt kamen wir dann schliesslich gegen 21 Uhr in Venedig an. Wir parkierten auf irgend einem Car- und Camperparkplatz, der unweit von der grossen Fährenanlegestelle entfernt war. Der Geruch von Fisch, Benzin und menschlichen Exkrementen lag in der Luft. Kein Ort, wo man lange verweilen möchte. Aber für uns immer noch gut genug, denn unsere Ansprüche bezüglich Luxus sind nach dem heutigen Tag ganz klar gesunken.

Zweiundzwanzigster Eintrag

Als ich Samstagnachts alleine und frustriert auf den Campingplatz zurückkehrte, nahm ich mir vor, es als einen schlechten Abend abzuhaken und bei Seite zu legen. Pedro machte es mir allerdings überhaupt nicht leicht diesen Vorsatz in die Tat umzusetzen, denn am morgen danach hatte er nichts Besseres zu tun, als ständig von ihr zu sprechen und Fotos von ihm und ihr herumzureichen. Ich mag Pedro ja. In der Schule haben wir es stets lustig, aber sobald es um Frauen geht, nervt er. Er ist ja total auf sie fixiert. Seine Frisur ist ihm ein Heiligtum, ständig schwitzt er im Fitnesskeller, um Muskeln aufzubauen und dann diese beiden Goldkettchen die er am Hals und am Arm trägt...Pedro heisst eigentlich Mischa und seine Eltern sind beide Schweizer, aber wir haben ihm irgendwann einmal den Spitznamen Pedro verpasst, weil er sich stets wie einer dieser eitlen Latinos aufführt.

Pedro nervte jedenfalls von dem Moment an, an dem er seine Klappe aufmachte

'Ey Jérôme, was war denn gestern mit dir los? Du warst ja total schlecht gelaunt - und das schon am ersten Abend?! War doch voll geil!'
'Naja'
'Was jetzt? Schau mal hier? Wir haben noch einige Fotos gemacht. Damn, schau dir mal dieses Girl an, sie ist total heiss!'

Pedro zeigte auf seinem neuen Iphone einige Fotos. Immer wieder Pedro und Lynn; mal knutschend, mal lachend, mal sich umarmend. Zwischendurch einige Fotos von Mick, der einen ziemlich schlechten und betrunkenen Eindruck machte. Mick lag auch jetzt noch irgendwo im Halbkoma herum. Er hat so diese Angewohnheit, sich total wegzuklatschen, wenn er mal mit Saufen angefangen hat.

'Jaja, ist sehr toll' raunte ich zu Pedro, nur damit er endlich mit den scheiss Fotos verschwand.
'Hey was ist denn mit dir los? Sag mal, bist du eifersüchtig oder was?'
'Sicher nicht. Es geht mir einfach auf die Nerven, dass du ständig mit deinen Frauengeschichten angeben musst. Hast du den nichts Anderes in deinem Leben? Es kommt mir so vor. Du definierst dich so sehr durch das?'
'Hä? Spinnst du jetzt völlig? Was spricht schon dagegen? Warum sollte ich es nicht tun, wenn es mir Freude bereitet? Und ist doch ausserdem etwas Schönes. Ihr hat es ja auch gefallen. Hättest dich ja mit ihrer Schwester vergnügen können'
'Mhm. Die war dämlich'
'Bullshit. Das ist doch riesen Bullshit, Jérôme. Beim Rumknutschen ist es doch völlig egal, wie die ist. Soll ich dir etwas verraten? Du hast dich einfach nicht getraut und jetzt bist du wütend!'

Ich begann wütend zu werden. Woher nimmt dieser Idiot eigentlich die Frechheit, mir so einen Mist zu unterstellen? Eigentlich hatte ich aber in diesem Moment weder Lust noch Kraft, um noch gross mit Pedro über diesen Blödsinn zu streiten. Zum Glück sah er es an einem gewissen Punkt auch ein und entschuldigte sich sogar.

'Ok Jérôme. Keine Frauengeschichten mehr in diesen Ferien. Ich nehm mich zurück. Sorry, alter.'
'Schon gut'

Im selben Moment hörten wir hinter uns Würggeräusche und saftiges Plätschern. Es kam von Mick, der soeben aufgestanden war und gestern wirklich genug getrunken hatte.

Den Rest des Tages verbrachten wir am kleinen Sandstrand, über den der Campingplatz verfügt. Wir genossen die Sonne, dösten vor uns hin und warteten auf den Abend. Der Abend, der dann kam, war anders als die vielen Abende, die wir sonst schon erlebt hatten. Es zog uns in die Stadt, natürlich, wie üblich. Anders als sonst tranken wir aber keinen Schluck Alkohol. Pedro trinkt sowieso nie sonderlich viel, ich hatte irgendwie keine Lust und Mick, nun ja, Mick wurde schon nur beim Wort Alkohol wieder schlecht.

Wir zogen durch Locarnos' Gassen und Strassen, auf der Suche nach einem guten Club oder ja, halt einfach einem, der besser zu sein versprach, als der Gestrige. Wir gingen eine ziemliche Weile umher, sahen aber nirgends etwas, das uns wirklich gefiel. Dann aber, es war irgendwo in der Nähe des Bahnhofs, hörten wir dumpfe Bässe, die aus der Richtung eines alten Fabrikgebäudes kamen. Die Musik zog uns an, wie Licht die Mücken anzieht. Sie war irgendwie eigenartig, nicht das 0815-Zeugs, das wir von unseren Partys kannten.

Beim Fabrikgebäude fanden wir heraus, dass die Musik aus dem Untergrund desselbigen stammt. Auf der Gegenüberliegenden Seite stiessen wir auf eine Treppe, die in den Untergrund führte. Unten wurden wir jedoch von zwei Türstehern aufgehalten, die etwas auf Italienisch faselten. Wir verstanden natürlich nur Bahnhof. Einer der Beiden erklärte daraufhin dann in gebrochenem Englisch "This no place for you guys". Pedro meinte daraufhin "Oh come on, we're good guys" und zog ein pedrotypisches Blendamed-Lächeln auf. Das kam irgendwie an. Jedenfalls begannen die Beiden miteinander zu verhandeln und plötzlich meinte der Eine, der uns zuvor noch abweisen wollte: "It's ok. Have fun!" und öffnete uns die Türe.

Wir traten in einen schlauchartigen und düsteren Gang, der von grün- und blaugefärbten UV-Röhren beleuchtet war. Die Wände waren versprayt und der Verputz bröckelte. Es waren nicht sonderlich viele Leute in diesem Raum. Vereinzelt standen sie in kleinen Grüppchen herum und sprachen über Dinge, die wir nicht verstanden. Mussten wir auch nicht, denn man merkte auch so, dass sie gut gelaunt und amüsiert waren.

Die Musik indes kam aus dem Raum am Ende des Schlauchganges. Durch eine fensterlose Tür trat man herein in einen nicht sonderlich grossen, aber auch nicht kleinen Raum. 15 auf 15 Meter vielleicht. Drinnen empfing uns eine angenehm schwüle Hitze. Der Raum war niedrig und dunkel. Schummrige und ungleichmässig über den Raum verteilte Lichtquellen, sowie ein Stroboskop das seine charakteristischen Lichtfetzen in den Raum schickte, erhellten selbigen. Wir konnten erkennen, dass die andern Partygäste deutlich älter als wir selbst waren. Die waren sicherlich 30 oder älter. Und auch die Musik lag irgendwie vor unserer Zeit. Aber sie war gut und zog uns in ihren Bann. Wir begannen mitzutanzen. Zuerst zögerlich, dann immer heftiger und losgelöster. Und auch die Andern um uns herum schienen völlig losgelöst zu sein und tanzten extatisch mit. Sie pfiffen zum Tackt der Musik und stiessen bei jedem neuen Lied Freudesschreie aus. Auf einem Podest, leicht erhöht über dem Rest der Leute, stand ein Typ mit einer Buschtrommel und trommelte wie ein Besessener darauf herum. Lied für Lied und immerzu mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht. Derweil schien es immer heisser im Raum zu werden, denn von der Decke begann Kondenswasser zu tropfen. Stören tat uns das jedoch nur wenig. Auch wir erlagen dem Bann der Musik und des Augenblicks. Wir tanzten. Die ganze Nacht hindurch und dies ohne einen Tropfen Alkohol. Gegen 5 Uhr verliessen wir den Ort. Zürich in aller Ehre, aber so eine geile Party haben wir dort noch nie erlebt!

Hier noch einer der Tracks, die dort so liefen. Dank Shazaam gefunden ;)