Donnerstag, 15. Juli 2010

Vierzehnter Eintrag

Es ist nun schon fast wieder zwei Monate her, seitdem ich meinen Vater zum letzten Mal gesehen habe. Heute Abend war es wieder soweit; er lud mich in die Brasserie Lipp auf ein köstliches Abendessen ein. Bis heute morgen wusste ich noch nichts davon. Mein Vater erschien wieder einmal auf einen Blitzbesuch hier in Zürich, das ist bei ihm immer so. Während den letzten beiden Monaten arbeitete er in Paris an so einer Untersuchung über die Wirtschaftskrise mit. Ich kann gar nicht so genau sagen, was seine Arbeit ist und worin sie besteht. Ich weiss bloss, dass er häufig mit Politikern und Wirtschaftsleuten zu tun hat und diese berät. Deshalb ist er mal hier und mal dort. Offiziell wohnt er zwar in Paris, irgendwo im I. Arrondissement in der Nähe der Nôtre Dame Kathedrale, aber wirklich häufig zu Hause ist er nicht. Im Moment arbeitet er während 3 Wochen an einem ähnlichen Wirtschaftsprojekt beim Bund in Bern mit. Es war eine sponante Anfrage, meinte er. Ein anderer Berater sei kurzfristig abgesprungen und er wäre nun an seiner Stelle tätig. Ansonsten hätte er sich schon früher bei mir gemeldet.

Mein Vater und ich, wir verstehen uns gut. Viele sind im ersten Moment erstaunt, wenn ich das sage. Denn mein Vater war ja eigentlich nie da, wenn man so will. Er und meine Mutter trennten sich, als ich noch ganz klein war und ich sah ihn seitdem bloss ungefähr jeden zweiten oder dritten Monat. Aber ich nehme ihm das irgendwie nicht übel, ich verstehe ihn sogar ein Stück weit. Es ist einfach so, dass, wenn mein Vater da ist, dann ist er nur für und ausschliesslich für mich da. Die ein oder zwei Tage, während denen wir zusammen ist, dreht sich dann alles um mich. Und was ich an ihm am Meisten schätze, ist, dass er mir zuhört. Nicht wie meine Mutter oder ihr bescheuerter Freund Hampi.

Ich erzählte meinem Vater vom Nachhilfekurs, für welchen meine Mutter mich angemeldet hat.

- Hmm, ja das sieht ihr ähnlich. Damit hat sie einerseits Recht, aber auch nicht Recht
- Wie meinst du das?
- Sie hat insofern Recht, als dass es wichtig ist, dass du das Gymnasium abschliesst. Sie hat aber nicht Recht damit, dass sie das schulische über Alles stellt. Letztendlich kommt es im Leben nicht auf Noten an; entscheidend ist lediglich, was du daraus machst. Selbstinitiative, Überzeugungskraft und Kreativität. Lerne dich zu verkaufen, getrau dich Dinge anzupacken, die Grösser als du selbst zu sein scheinen, überrasche dich selbst.
- Ja, ich sage das Mum auch immer, aber sie hört mir nicht zu. Sie redet immer bloss von Fleiss, Fleiss, Fleiss.
- Versteh' mich nicht falsch; ich möchte dich nicht dazu einladen, faul zu sein. Ohne Fleiss kein Preis, das ist immer noch so. Aber versteif dich nicht auf den Fleiss, ja versteif dich nicht auf schulischen oder beruflichen Erfolg. Vergiss niemals, dass du nebenbei auch noch lebst.
- Meinst du mit Leben die Liebe?
- Ohne Liebe kein Leben, Jérôme. Was, wenn nicht die Liebe, würde uns über Wasser halten und uns erlauben die Dinge zu leiste, die wir leisten?
Er lachte herzlich und klopfte mir auf die Schulter. Gleichsam fuhr er fort:
- Jérôme, liebst du?
- Nun ja, vielleicht?
- Weiss sie davon?
- Nein, ich denke nicht
- Weisst du, manchmal ist es vernünftig Dinge zu tun, die im ersten Augenblick unvernünftig erscheinen,  die aber dein Herz bejaht. Riskiere etwas. Riskiere es, dass sie dir eine Abfuhr erteilt, riskiere es, dass sie dich zurückweist; dann weisst du wenigstens, woran du bist. Tust du es nicht, so wirst du niemals erfahren, ob sie dich auch geliebt hat oder nicht. Geh' raus und mach Erfahrungen, solange du jung bist.
- Es ist nicht so einfach, weisst du. Es macht mir Angst.
- Oh ja, natürlich. Ich weiss das sehr gut, denn es erging mir genau gleich, als ich in deinem Alter war. Leider habe ich es damals verpasst, unvernünftig zu sein und auf mein Herz zu hören. Ich will nicht, dass du den selben Fehler begehst und es später bereust.
- Weshalb bereuen? Bereust du dein Leben? Du hast doch so vieles erreicht, weshalb solltest du es bereuen?
- Weisst du, Jérôme, Reichtum und Ansehen ist das Eine. Wie es in deinem Herzen aussieht, ist das Andere. Versuche stets beides im Gleichgewicht zu halten.

Er wirkte irgendwie traurig, was mich verwirrte. Ich versuchte ihn zu trösten, indem ich versprach Dinge zu riskieren.

- Ich verstehe, ich werde also versuchen unvernünftig zu sein.

Wir lachten beide.

- Was machst du morgen? fragte er
- Naja, ich bin in der Schule halt
- Wollen wir unvernünftig sein und ein wenig shoppen gehen?
- Du meinst ich soll die Schule schwänzen?
- Riskier etwas. In der letzten Woche vor den Sommerferien verpasst du in der Regel eh nie etwas
- Du hast Recht. Dann gehen wir morgen shoppen.

Die Unterhaltung mit meinem Vater tat mir gut und ich freue mich auf den morgigen Tag. Es scheint so, als wolle mich irgendetwas, irgendeine Kraft dazu anstiften, Dinge zu riskieren, sie herauszufordern. Schon Bice riet mir neulich dazu. Aber vielleicht ist es ja auch gar keine Kraft, Schicksal oder was auch immer, die da im Hintergrund wirkt, sondern vielleicht bin ich es ja auch, der so unglaublich träge ist und nichts riskiert, sodass es allen um mich herum auffällt...

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