Samstag, 17. Juli 2010

Sechzehnter Eintrag

Die wichtigsten Dinge scheinen einem dann zu widerfahren, wenn man nicht mit ihnen rechnet. Wenn mir einer heute Nachmittag gesagt hätte, dass ich den Abend mit Aline verbringen würde, dann hätte ich denjenigen wohl ausgelacht, aber genauso kam es.

Heute Abend war mir langweilig; ich ging deshalb einfach mal ins MSN. Schauen, wer so drin ist. Ok, eigentlich wollte ich ausschliesslich wissen, ob Aline drin ist. Sie war es nicht, was mich frustrierte. Dann, gegen halb neun, kurz bevor ich vom Computer weggehen und mir einen DVD ansehen wollte, kam sie plötzlich doch noch online und es schien so, als sei das erste, was sie tat, mich anzuschreiben.

Mein Herz stockte, war wie gelähmt und schien zur selben Zeit wilde Freudensprünge zu machen.

- Hey du ^^
- Heyyy :D
- Wie gehts? Nicht unterwegs?
- Nein, mir ist ein wenig langweilig. Weiss nicht so recht was tun. Heute war zwar der letzte Schultag und eigentlich sollte ich feiern wie alle andern, aber mir ist heute nicht danach. Fühle mich bloss irgendwie müde und ausgelaugt. Und du?!  Wie gehts denn dir und weshalb bist du denn nicht unterwegs? Hattest ja heute auch deinen letzten Schultag oder?
- Hmm ja, ich wollte eigentlich ursprünglich auch weggehen und feiern, aber ja...
- Och nein, lass mich raten: Hat er dich wieder versetzt?
- Mhm. Er wolle mit seinen Freunden ins Kaufleuten gehen. Männerabend. Und wir würden uns morgen ja eh sehn. Klar sehen wir uns morgen, aber wir haben das schon seit einer Woche abgemacht und dann schreibt er mir heute Nachmittag so ein lapidares SMS von wegen ob das schon ok für mich sei und so weiter, wenn wir uns heute nicht sehen würden. Sorry, ich belästige dich damit. Tut mir Leid...
- Nein nein, ist überhaupt kein Problem. Ich höre dir gerne zu...
- Danke. Aber es ist irgendwie so merkwürdig...ich kenne dich ja eigentlich gar nicht und erzähle dir das alles. 
- Das stimmt, ist schon speziell, aber es freut mich auch. Du scheinst mir auf irgendeine sonderbare Art und Weise zu vertrauen?
- Hmm...ja, ich vertraue dir. Ich vertraue dir weil, weil ich mich irgendwie mit dir verbunden fühle. Merkwürdig oder? 
- :) Es freut mich, dass du so fühlst, ich fühle ähnlich
- :)
- Wollen wir uns besser kennenlernen?
- Wie meinst du das?
- Wir könnten uns treffen...
- Hmm.. ja :)
- Cool! Wie wäre es mit heute Abend? Wir beide haben ja noch nichts vor ;)
- Haha du bist lustig. Doch heute Abend wäre gut :) Wo wollen wir uns treffen? 
- Irgendwo in der Mitte zwischen uns beiden. Wo genau wohnst du? Du wohnst schon in Zürich, oder?
- Ja klar, ich wohne in Wiedikon, in der Nähe der Kirche Bühl. Und du?
- Ah ja, das kenn' ich. Es ist schön dort oben :) Ich wohne im Seefeld. Wollen wir uns beim Lindenhof treffen?
- Ou ja, gute Idee! In einer Stunde beim Lindenhof, ok? 
- Ok! Wir erkennen uns schon, oder?
- Ich erkenn dich sicher. Dein Gesicht hat sich in diesem Schockmoment damals in mein Gedächtnis eingebrannt ;)
- Ich hoffe du verbindest mein Gesicht jetzt nicht mit einem Schock ;) Solltest du mich trotzdem nicht mehr erkennen können, werde ich dich sicherlich erkennen. Du bist unverwechselbar :)
- :) Bis bald! Ich freue mich!
- Ich mich auch! Bis bald!

Gleich nachdem ich diesen letzten Satz geschrieben hatte, rannte ich rüber in mein Badezimmer, duschte mich und machte mich zurecht. Ein seltenes Glücksgefühl, das ich schon lange nicht mehr verspürte, durchströmte meinen Körper von Kopf bis Fuss. Es kam mir so vor, als könnte ich nun nichts mehr falsch machen; ja es war eine seltsame Zuversicht, ein Vertrauen in den mir gegebenen Schicksalsweg, welches ich aber nicht näher beschreiben kann. Beschwingt von dieser Zuversicht griff ich im Kühlschrank eine Flasche Prosecco, nahm zwei Gläser und machte mich auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt. Ich nahm das 4er-Tram und stieg bei der Rudolf-Brun-Brücke aus. Als ich die Treppen der Urania-Wache hochstieg, machte sich in mir plötzlich die Nervosität zu spüren, welche die vorhergehende Zuversicht langsam aber stetig zu verdrängen schien. War das wirklich eine gute Idee? Wie wird das rauskommen? Werden wir uns verstehen? Fragen, auf die es keine Antwort geben konnte, solange man sich nicht der Situation stellen würde, drehten sich in meinem Kopf im Kreise. Und als ich schliesslich die Treppen zum Lindenhof raufstieg, spürte ich den tiefen und starken Schlag meines Herzens bis in die Fingerspitzen. Leichter Angstschweiss benässte meine Fingerkuppen und das Adrenalin in meinem Blut schien mich lähmen zu wollen. Dann erblickte ich sie, bei der Mauer des Lindenhofs stehend, hinter ihr im Abendrot das Grossmünster. Mechanischen Ganges schritt ich auf sich zu. Mein Blickfeld verengte sich; es schien fast so, als hätte das Universum einen Mittelpunkt: uns. Dort stand sie also da. Sie trug schwarze Leggins und Ballerinas, dazu ein Hemd aus Jeansstoff, welches sie an den Ärmeln hochgekrempelt hatte. Ihr Haar schmückte ein einfaches, braunes Hippielederband.

Ich lächelte unsicher in ihre Richtung, woraufhin sie in einer ähnlich unsicheren Art und Weise mein Lächeln erwiderte. Wir begrüssten uns. Drei kurze Küsse auf die Wangen, obschon mir dies absurd erschien. Viel lieber hätte ich sie auf ihre Lippen geküsst und mir war fast ein wenig so, als erginge es ihr ähnlich, denn als sich unsere Wangen berührten, drückte sie ihren Kopf sanft aber bestimmt an den meinen und verharrte länger so, als es bei Begrüssungen üblich ist. Wir setzten uns auf die Mauer und blickten hinunter zur Limmat. Stille kehrte für einen kurzen Moment ein und ich unterbrach diese, die mir unangenehm schien, mit der wohl reichlich dämlichen Frage, ob sie den Weg hierhin gut gefunden hat. Entsetzt über den Blödsinn, der mir soeben über die Lippen huschte, schickte ich ein Lächeln nach, das klarmachen sollte, dass es bloss ein schlechter Witz war.

'Klar', sagte sie. 'Ich bin öfters hier oben. Ich liebe es an solchen Abenden wie heute einer ist hier oben zu sein. Ich fühle mich dann so...frei und aufgehoben' erzählte sie, woraufhin ihre tiefbraunen Augen ein wenig zu funkeln schienen.

Es war tatsächlich ein speziell schöner Abend. Die lähmende Sommerhitze des Tages war mittlerweile gewichen, aber doch fühlte man sich noch wie von einer warmen und flauschigen Decke umhüllt. In der Luft lag der Duft von Sommer und Liebe. Vor allem Liebe, wie mir schien.

'Du hast jetzt auch Sommerferien oder?' fragte ich sie. Eine dumme Frage, wie mir schien, aber zum Glück schien die Frage ihr nichts auszumachen.
'Jap, endlich Ferien!' sie lachte und reckte freudig ihre Arme in die Höhe. 'Was hast du so vor während diesen Ferien?'
'Ich werde bloss Nachhilfestunden nehmen' scherzte ich.
'Im Ernst?' fragte sie ein wenig ungläubig.
'Nein, natürlich nicht. Aber meine Mum will mich dazu verdonnern, Nachhilfestunden zu nehmen'
'Soso, ein schlechter Schüler also?' fragte sie keck
'Ach, bloss in einigen Fächern. Aber meine Mum will, dass ich in allen Fächern gut bin'
'Ohje, das ist bei meinen Eltern genau dasselbe' sie verdrehte ihre Augen und kam wieder auf die Ferien zu sprechen:
'Aber sag schon, was tust du so, während diesen Ferien?'
'Ich werde sicherlich eine Woche oder so mit einem alten Camper verreisen, den zwei Freunde und ich vor kurzem ersteigert haben'
'Wow! So cool! Von so etwas habe ich auch schon immer geträumt. Einfach dorthin zu fahren, wo man hin will und alle Sorgen zu Hause zu lassen' sagte sie begeistert.
'Und was machst du so?' fragte ich sie.
'Nächste Woche verreise ich mit einigen Freundinnen nach Lugano. Die Eltern von einer haben dort ein Ferienhäuschen. Und dann' ihre Stimme hob sich an 'werde ich nach New York zu einer Cousine reisen. Ich freue mich schon seit einem halben Jahr darauf!'
'Wow! Ich beneide dich drum, da kannst du dir sicher sein!' gestand ich.

Der Moment schien mir gerade passend zu sein, jedenfalls zog ich den Prosecco und die beiden Plastikgläser aus meinem Jutesack.
'Lass uns ein Glas auf New York trinken. Oder auf heute Abend?'
'Du bist süss' meinte sie und lachte
'Und du bist mutig. Vielleicht fände ich das ganze jetzt gar nicht toll und kitschig?' fragte sie fordernd.
'Ich weiss nicht, es schien mir richtig zu sein, es zu tun'
'Gut hast du es getan' sagte sie leise und fügte an 'ich mag sowas'. Sie senkte kurz ihren Blick und wirkte etwas verlegen. Danach stiessen wir an und blickten uns gegenseitig für kurze Zeit in die Augen. Strom schien durch mich hindurch zu schiessen. Ihre Schönheit elektrisierte mich und erlaubte es mir nicht, ihr weiter in ihre haselnussbraunen Augen zu sehen. Verlegen blickte ich zu Boden. Merkwürdigerweise und gleichsam beruhigenderweise tat sie es mir gleich.

'Was willst du eigentlich nach der Matura tun?' fragte ich, weil mich die plötzliche Stille zwischen uns einerseits störte, aber andererseits interessierte es mich auch echt.
'Am Liebsten würde ich Klavier studieren an einem Konservatorium. Ich liebe es, aber ich weiss nicht, ob ich angenommen werde. Es soll eine ziemliche Herausforderung sein. Sollte es nicht klappen, werde ich wohl Biologie studieren. Finde Genetik total spannend! Und du hast schon Pläne?'
Ich war erstaunt, dass sie ihre Zukunft schon so vorausgeplant hatte, denn ich hatte noch keine Ahnung, wie ich zugeben musste.
'Einfach nichts mit Mathematik oder so seelenloses wie Wirtschaft. Es ist mir wichtig etwas zu studieren, hinter dem ich voll stehen kann. Aber am Liebsten würde ich irgendwie gar nie studieren. Ich möchte, das alles so bleibt, wie es ist. Dieses Erwachsenenleben macht mich nicht an.'
'Aber das Erwachsenenleben kann auch interessant sein. Du kannst von zu Hause ausziehen...' gab sie zu bedenken
'Möchtest du gerne von zu Hause weg?' fragte ich sie. Sie schien ein wenig nachdenklich zu werden:
'Ja, ich denke schon. Es ist nicht so toll zu Hause.'
'Geht mir gleich' sagte ich und spürte, wie ich ein wenig traurig wurde.
'Tut mir Leid...hmm weisst du, du hast Recht. Ich hab' irgendwie auch keine Lust aufs Erwachsenwerden. Ich will Klavier spielen uns sonst nichts anderes. Jeden Morgen aufstehen und einer Arbeit nachgehen, die man gar nicht mag und nur genau deshalb tut, weil man halt Geld braucht? Nein, das will ich nicht. Ich möchte am Ende des Tages, ja am Ende meines Lebens in den Spiegel schauen und sagen können, das es ok ist. Dass ich mir selbst treu geblieben bin'
Ihre klaren Worte erstaunten mich und ich musste lächeln. 'Du bist gut' sagte ich und lächelte immer noch 'Du hast soeben etwas ausgedrückt, was ich ebenfalls schon lange so fühlte, nur konnte ich es bloss noch nie in Worten ausdrücken'. Mir gefiel das. Allgemein; mir gefallen intelligente Frauen und sie schien ziemlich intelligent zu sein. Das machte sie in meinen Augen irgendwie noch schöner und mir wurde klar, dass ich sie wollte. Ich wollte, dass sie meine Freundin wird! Ich musste etwas tun...

'Sag mal, du gehst doch auf der Hohen Promenade zur Schule, nicht wahr?'
'Ja genau! Und du ins Stadelhofen oder?' antwortete sie.
'Bei euch findet doch jeweils ein Jahresabschlussball statt?' fragte ich wiederum.
'Jaaa!' antwortete sie freudig. 'Der ist morgen und ich freu mich schon total darauf!'

Ich hätte mir in diesem Moment gewünscht, dass sie mich fragen würde, ob ich sie begleite, obschon ich ja wusste, dass sie einen Freund hatte. Doch ich hoffte trotzdem, aber sie fragte nicht. Ich versuchte meinem Glück nachzuhelfen, aber ich tat es wohl auf eine ziemlich unglückliche Art und Weise;

'Und du gehst mit deinem Freund hin?'
'Ja. Er hat es mir zumindest versprochen' sagte sie zurückhaltend.

Ich hätte das Gespräch nicht auf ihren Freund lenken sollen, denn selbiges stockte nun ein wenig und ich spürte, wie sich ein Kloss in meinem Hals zu bilden schien und mir das Schlucken erschwerte. Gleichzeitig verkrampfte in mir etwas und meine anfängliche Euphorie schien verflogen. Wie konnte ich nur so naiv sein und glauben, dass sie ihn für mich verlassen würde? Der Abend war für mich von diesem Moment an gelaufen - ich konnte nicht mehr mich selbst sein. Gegen Mitternacht liefen wir vom Lindenhof runter zur Rudolf-Brun-Brücke. Dann standen wir da und schauten uns gegenseitig an. Ich brachte kein vernünftiges Wort aus mir raus. Ausser 'Ja dann...' woraufhin sie ebenfalls 'ja dann' sagte und zu Boden auf ihre Ballerinas blickte. Daraufhin hob sie wieder ihren Blick und flüsterte 'Danke für Alles. Und es tut mir Leid'. Sie schaute mir tief und traurig in die Augen und drückte mir einen Kuss auf die Wange. Dann ging sie fort Richtung Central. Noch einmal drehte sie sich um und blickte über ihre Schulter zurück zu mir und lächelte schüchtern, während ich wie angewurzelt stehen blieb. Ich blickte ihr noch lange nach und hoffte, dass sie sich noch einmal umdrehen würde. Doch sie tat es nicht. Irgendwann drehte ich mich um und ging kraftlos zur nächsten Tramhaltestelle. Tränen schossen mir in die Augen. Das alles war zu viel.

2 Kommentare:

  1. du hast einen so wunderschönen schreibstil...
    sei nicht traurig, dies war bestimmt nicht euer letzter abend und auch ganz bestimmt nicht die letzte möglichkeit, das ein oder andere anders zu machen. ;-)

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  2. Herzlichen Dank für deine netten Worte - sowas tut sehr gut, wenn man mal richtig down ist :)

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